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Mutterseelenallein und doch nicht ganz verloren

Königshofer Deportierte im Lager Dserschinsk im Donezbecken Quelle: Heimatbuch Königshof

Bescheinigung des rumänischen Arbeitsministeriums über die von Rosalia Gutti geleistete „Wiederaufbauarbeit“ in der Sowjetunion

Die Deportation in die Sowjetunion aus Sicht eines zurückgelassenen Kindes - Vor nunmehr 78 Jahren, im Januar 1945, ereignete sich die Deportation der Banater Schwaben zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Rund 300000 Deutsche insgesamt, darunter circa 70000 Deutsche aus Rumänien, wurden in die Sowjetunion zwangsverschleppt, um die durch ihre Länder verursachten Kriegsschulden wiedergutzumachen. Dieses Ereignis ist fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Banater Schwaben. Ein Schicksal, das nicht nur Auswirkungen auf die Deportierten selbst, sondern auch auf deren Angehörige, insbesondere auf deren Kinder hatte.

Auch Erna Franzen, geborene Gutti, kann von diesem Schicksal berichten. Geboren wurde sie am 14. November 1940 in Königshof als Tochter von Josef und Rosalia Gutti, geborene Maringer. Ihr Bruder Roland kam am 24. Januar 1942 auf die Welt. Ein weiteres Kind der Familie, die Tochter Rosalia Maria, verstarb am 3. November 1944 im Alter von gerade einmal sieben Monaten. Der Vater Josef Gutti wurde am 21. Januar 1915 in Blumenthal, die Mutter Rosalia am 4. März 1921 in Königshof geboren. In den Krieg zog der Vater im Juli 1943 als Soldat der Deutschen Armee.

Der Ort Königshof (Remetea Mică) liegt auf der Lippaer Hochebene, auf der linken Seite des Bergsaubaches, in unmittelbarer Nähe der Eisenbahnlinie Temeswar – Radna. 1940 lebten laut Volkszählung 773 Deutsche in Königshof, 135 von ihnen wurden im Januar 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert.

Josef Gutti ist 1943 im Krieg in Polen gefallen, seine durch eine Lungenerkrankung geschwächte Witwe kümmerte sich allein um ihre beiden Kinder. Es war kein leichtes Los, das Familie Gutti gezogen hatte. Und doch kam es noch schlimmer. Als im Januar 1945 Soldaten ins Dorf kamen, um Arbeitskräfte für den Wiederaufbau der Sowjetunion auszuheben, stand auch Rosalia Gutti auf der Liste. Bereits im Herbst 1944 waren erste Gerüchte aufgekommen, dass die von der Sowjetunion seitens Rumäniens geforderten Arbeitskräfte aus den Reihen der Volksdeutschen gestellt werden würden. Dazu kam es, als in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1945 Königshof von Soldaten umstellt wurde. Akribisch wurde die Liste abgearbeitet, keine Rücksicht auf Kranke und Schwangere genommen. Einigen gelang die Flucht in den nahegelegenen Wald, andere versteckten sich in den Scheunen. Doch die Ansage, dass die Versteckten durch Angehörige ersetzt werden, veranlasste die meisten von ihnen, sich freiwillig zu stellen.
Als Sammelort für die Verschleppten diente zunächst die Schule. Den Familien wurde zumindest gestattet, ihre Angehörigen mit Kleidung und Lebensmitteln zu versorgen. Am 21. Januar 1945 wurden sie auf Pferde- und Lastwagen nach Lippa gebracht und dort in Viehwaggons für den Weitertransport in die Sowjetunion verladen. Die Szenen, die sich beim Abschied in Königshof abspielten, wurden begleitet vom traurigsten Glockengeläut, das Königshof jemals hörte, so Katharina Frekot, geborene Thomas, in ihrem im Königshofer Heimatbuch erschienenen Erlebnisbericht. Gemeinsam mit Rosalia Gutti wurde auch sie in die Sowjetunion deportiert.

Nach etwa drei Wochen Fahrt erreichten sie ihr Ziel, welches die meisten erst nach fünf Jahren und 20 Königshofer gar nicht mehr verlassen sollten. Genau wie Katharina Frekot mussten auch Rosalia Gutti sowie weitere 81 Königshofer Zwangsarbeit im Lager 1031 in Dserschinsk im Donezbecken verrichten. Die weiteren Königshofer waren in den Lagern  Nr. 23 Tsechlovka, Nr. 21 Tschaikina (beide in Stalino), Woroschilovsk, Sverdlovsk, Jenakijeva, in den Lagern Lenin und Iljanovka sowie im Lager Ufalei im Ural interniert.

„Das Tor ging auf und die Soldaten kamen herein. Unsere Mutter lag krank im Bett, aber dies stellte kein Hindernis dar. Sie zogen sie aus dem Bett und nahmen sie einfach mit. Und dann standen wir da, im Hof neben dem Brunnen, mutterseelen-allein.“ Erna Franzen war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt, ihr Bruder Roland zwei. Nicht vorzustellen, welche Ängste, welches Trauma dieses Geschehen in den beiden ausgelöst hat, denn sie hatten ja nur ihre Mutter. Ein Trauma, so Erna Franzen, das sie zeitlebens nicht loslässt. Die Großeltern mütterlicherseits und der Großvater väterlicherseits waren bereits verstorben und es gab auch keine Geschwister der Eltern, die sich um die Kinder hätten kümmern können. Da standen sie nun allein zurückgelassen und hilflos. Ein Schicksal, das sie mit weiteren Kindern aus Königshof teilten. 25 Deportierte mussten ihre Kinder den Großeltern oder Verwandten überlassen, da ihre Ehemänner im Krieg waren beziehungsweise die Ehefrau verstorben war. Betroffen waren davon 36 Königshofer Kinder.

Zunächst kam Erna Franzen bei ihrem Großonkel mütterlicherseits unter. Dann verbrachte sie einige Zeit bei einer entfernt verwandten Familie, bis sich schließlich ihre noch einzig lebende Großmutter, die Mutter ihres im Krieg verstorbenen Vaters, erbarmte und sich ihrer annahm. In der Obhut dieser Großmutter befanden sich bereits die beiden Cousinen von Erna und Roland. Deren Mutter, die Schwester von Josef Gutti, wurde ebenfalls in die Sowjetunion deportiert. Die Fürsorglichkeit und die Zugewandtheit, die man im Allgemeinen einer Großmutter ihren Enkeln gegenüber zuschreibt, ließ diese jedoch vermissen und bis heute ist der Kummer groß darüber, wie ungleich die Großmutter ihre Enkelkinder behandelte und wie schlecht es Erna Franzen bei ihrer Großmutter ging. Geschlafen hat sie auf einer Mehltruhe, lediglich zugedeckt mit einem Mantel, und es war kein Geheimnis, dass sie oft hungrig durch den Tag kommen musste. Abhilfe leisteten andere, die – und hatten sie selbst auch wenig – Erna mit an ihren Tisch baten. Ernas jüngerer Bruder Roland wurde von einem Großonkel mütterlicherseits aufgenommen, bei welchem er bis zur Rückkehr seiner Mutter bleiben konnte. Auch er hatte es nicht immer einfach.

So kann man von einer glücklichen Fügung sprechen, als eines Tages Notre-Dame-Schwestern nach Königshof kamen und ihre Hilfe anboten. Die 1833 in München gegründete Ordensgemeinschaft der Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau ließ sich bereits 1858 in Temeswar nieder, wo sie sich als die Armen Schulschwestern Notre Dame bezeichneten. In der Josefstadt entstand ihr Mutterhaus mit der Notre-Dame-Klosterkirche und einem großen angeschlossenen Gebäudekomplex, der neben einem Kindergarten, einer Volksschule, einem Mädchengymnasium, einer Fortbildungsschule auch eine Übungsschule für die Lehrerinnenbildungsanstalt beheimatete. Gegenüber diesem Komplex befand sich ein Waisenhaus, welches ebenfalls von den Notre-Dame-Schwestern betreut wurde. In diesem Waisenhaus wurde Erna Franzen untergebracht. Die Zeit im Waisenhaus war für sie ein Glücksfall. Man kümmerte sich, ließ die Kinder auch Kind sein. Nicht zu vergleichen mit dem Leben davor. Sehr lebendig sind ihre Erinnerungen an das Waisenhaus, an das imposante Gebäude, das große Tor, den mit Bäumen gesäumten Innenhof, vor allem aber an die Gutmütigkeit der Schwestern. Etwa drei Jahre verbrachte sie dort. Zunächst besuchte sie den Kindergarten und anschließend die erste Klasse. Obgleich die Mutter fehlte, fühlte sie sich dort gut aufgenommen und angenommen und nicht ganz so verloren.

Als ihre ebenfalls in die Sowjetunion deportierte Tante, die Schwester ihres Vaters, wieder zurückkehrte, wurde die Entscheidung getroffen, Erna aus dem Waisenhaus in Temeswar wieder zurück nach Königshof zu ihrer Großmutter zu holen. An der Situation hatte sich nichts geändert. Ihr Bett war immer noch die Mehltruhe. 

Viele Deportierte kehrten zu diesem Zeitpunkt nach Königshof zurück. Die Rückkehrer wurden im Dorf bereits vor ihrer Ankunft am Bahnhof vom Trommler angekündigt. Und auch das Warten für Erna und Roland sollte ein Ende haben. Als eine der letzten kehrte ihre Mutter Rosalia im November 1949 nach Königshof zurück. „Als ich den Trommler hörte, bin ich sofort ans Tor gesprungen. Er verkündete die Rückkehrer und endlich, an letzter Stelle seiner Aufzählung, hörte ich den Namen meiner Mutter.“ Ab diesem Zeitpunkt gab es kein Halten mehr. Erna rannte zu ihrem Bruder: „Roland, Roland, komm! Die Mami kommt!“ Hand in Hand sind die Geschwister zum Bahnhof gegangen – zunächst vergebens. Ihre Mutter war nicht im Neun-Uhr-Zug und auch am Mittag ist sie nicht angekommen. Die letzte Hoffnung war der Fünf-Uhr-Zug am Abend. Begleitet von der Verwandtschaft sind die Geschwister wieder hoffungsvoll zum Bahnhof gegangen, als der Zug eintraf. Und da stand sie auf den Treppen des Zuges in Filzstiefeln, das Kopftuch am Hinterkopf zugeknotet, bereit, ihre Kinder wieder in die Arme zu schließen. Nach beinahe fünf Jahren kehrte Rosalia Gutti wieder zurück. Zurück in ihre Heimat, zurück zu ihren Kindern.

In ihrem Zuhause lebten zwischenzeitlich Kolonisten. Zunächst bewohnte die wiedervereinte Familie nur zwei Zimmer, bevor ihnen wieder das ganze Haus zuteilwurde. Nun hieß es wieder Fuß fassen, ein gemeinsames Leben aufbauen als Witwe und Mutter zweier Kinder, die die letzten fünf Jahre erfahren mussten, was es heißt, elternlos zu sein. Häufig saßen die drei vor dem wärmenden Ofen, lauschten dem Knistern des Feuers. Die Kinder legten den Kopf auf den Schoß ihrer Mutter und sie erzählte ihnen von Russland, von all dem Leid und Elend, aber auch von ihrer Überzeugung, durch die Luftveränderung, die Lungenerkrankung überwunden zu haben. Erna Franzen ist sich sicher: Wäre ihre Mutter in Königshof geblieben, hätte ihr Leben zu Ende gehen können. So kehrte sie aber gesund wieder zurück.