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Eine Niederlage, fast so schön wie ein Sieg

Der Davis-Cup Foto: Wikipedia

Ilie Năstase in Aktion Fotos: Wikipedia

Die rumänische Mannschaft in roten Jacken mit Kapitän Stefan Georgescu, Ilie Năstase, Ion Țiriac, Petre Mărmureanu und Toma Ovici (von links nach rechts) Foto: Getty Images

Ion Țiriac in Aktion Fotos: Wikipedia

50 Jahre seit dem Davis-Cup-Finale Rumänien gegen die USA in Bukarest

„Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Der Herbst 1972 ist ein heißer in Rumänien. Weniger von den Temperaturen her, vielmehr, weil die politischen Drähte zwischen Bukarest und Washington glühen. Nach zwei Endspielen um den Davis-Cup im Herrentennis zwischen Rumänien und den USA 1969 in Cleveland (Ohio) und 1971 in Charlotte (North Carolina) steht in Bukarest das dritte Finale des größten, jährlich ausgetragenen sportlichen Teamwettkampfes zwischen beiden Ländern bevor. Jene auf US-Boden hatten die Amerikaner gewonnen.

Doch das jetzige Endspiel hat՚s in sich. Denn es ist längst noch nicht klar, ob die Amis Mitte Oktober überhaupt in die rumänische Hauptstadt kommen werden. Kurz zuvor fand bei den Olympischen Sommerspielen in München ein Attentat auf die israelische Mannschaft statt. Bei dem von Palästinensern verübten Anschlag wurden alle elf israelischen Geiseln ermordet. Doch was hat das Attentat von München mit dem Davis-Cup-Finale in Bukarest zu tun? Für die Amerikaner sehr viel. Denn mit Harold Solomon und Brian Gottfried stehen zwei Spieler jüdischer Herkunft in ihrem Team. Weil der rumänische Machthaber Nicolae Ceauşescu ausgezeichnete Beziehungen zu den Palästinensern pflegt, befürchten die USA sechs Wochen nach dem Anschlag von München einen ebensolchen auch in der rumänischen Hauptstadt.

Deshalb stehen die Telefone in diesen turbulenten Herbsttagen zwischen Bukarest und Washington nicht still. Selbst das State Department schaltet sich ein, das amerikanische Außenministerium. Und schließlich nehmen sich die beiden Staatschefs höchstpersönlich der hochbrisanten Angelegenheit an. US-Präsident Richard Nixon ruft seinen rumänischen Kollegen Ceauşescu an, und dieser versichert ihm: „Du kannst die Tennisspieler schicken.“ Beide Politiker verstehen sich bestens, seit Ceauşescu den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 in die ČSSR verurteilt hat. Bereits ein Jahr später reist Nixon nach Rumänien. Es ist einer seiner ersten Staatsbesuche als US-Präsident.

Was die Amerikaner nicht wissen: Mit Toma Ovici steht auch ein Spieler jüdischer Herkunft im Davis-Cup-Aufgebot von Rumänien. Seine Eltern sind Holocaust-Überlebende. Demnach haben die Rumänen ein ureigenes Interesse, dass während des Finales kein Anschlag verübt wird und treffen die notwendigen 
Sicherheitsvorkehrungen. 

Von alldem wissen die Menschen in Bukarest nichts. Sie freuen sich einfach auf ein Ereignis, wegen dem die gesamte Sportwelt interessiert auf ihre Stadt blicken wird. Schließlich ist es das erste Finale, das in einem Land außerhalb jener mit Grand-Slam-Turnieren wie England, Frankreich, USA sowie Australien stattfinden wird. Und das will was heißen.

Als sich die Air-France-Maschine mit der amerikanischen Auswahl im Anflug auf den Otopeni-Flughafen befindet, verschlechtert sich das Wetter. Plötzlich peitschen Windböen den Starkregen an die Flugzeugfenster. Der gespenstische Eindruck bleibt auch nach der Landung bestehen. Zwei Dutzend athletische Männer erwarten die US-Delegation auf dem Rollfeld. Über ihren schwarzen Lederjacken haben sie Maschinenpistolen geschultert. Einige tragen unter den Hosen Messer, die an ihren Beinen festgebunden sind. Solch ein massiver Sicherheitsaufwand wurde bisher nur beim Empfang von hohen Staatsgästen betrieben, aber nicht von Sportlern. Doch diesmal ist alles anders.

Die Amerikaner betreten, vorsichtig um sich blickend, das zweieinhalb Jahre vorher eröffnete internationale Terminal des Flughafens, das eine Kapazität von 1,2 Millionen Passagieren hat. Für das soeben eingetroffene US-Team wird eine streng abgeschirmte Sicherheitskontrolle durchgeführt. Danach steigen die Gäste in die vorm Terminal wartenden Busse ein. Die Kolonne setzt sich in Bewegung. Vorne und hinten Sicherheitsfahrzeuge, daneben Motorräder und dazwischen einige Busse. Alle roten Ampeln werden überfahren, niemand darf den Tross stoppen. Er kommt am Intercontinental an. Es ist anderthalb Jahre vorher eröffnet worden, das beste und luxuriöseste Hotel des ganzen Landes sowie das erste in Rumänien mit fünf Sternen. Die Amis nehmen einen gesonderten Eingang. Das werden sie an jedem Tag ihres Aufenthaltes in Bukarest tun. Im Hotel benutzen sie einen isolierten Fahrstuhl und bis zu ihm niemals den gleichen Weg vom Stadion zum Hotel. Auf seinem Dach und den umliegenden Gebäuden sind zahlreiche Scharfschützen postiert.

Die Rumänen lesen den Amerikanern jeden Wunsch von den Augen ab, auch wenn er noch so ausgefallen erscheint. Die US-Delegation verlangt Gerichte, zubereitet aus frischem Rindermuskelfleisch und zum Trinken stilles Mineralwasser, damals eine Seltenheit in Rumänien. Ihre Gastgeber besorgen alles, nur damit die Welt für die Amis in Ordnung ist und sie keinen Grund für irgendeinen Vorwurf haben. Doch eine Befürchtung wollen und können die Hausherren den Amerikanern nicht nehmen: Dass ein kleines kommunistisches Land wie Rumänien die kapitalistische Großmacht USA im Tennis besiegen wird. Für diese wäre es im Kampf der Systeme eine Schmach sondergleichen.

Doch auszuschließen ist das nicht. Im Gegenteil! Ein Monat vorher hat der blendend aussehende Charmeur Ilie Năstase die US-Open in Forest Hills gewonnen, einem Stadtteil im New Yorker Bezirk Queens. Es ist der erste Grand-Slam-Turniersieg seiner Karriere, aber kein Freifahrtschein. Kaum nach Rumänien zurückgekehrt, bekommt er das zu spüren. „Sie haben mir den Wagen abgenommen und mich im Hotel eingesperrt. Ich fühle mich wie im Doftana-Gefängnis“, klagt Ilie. Er darf nur zum Training raus. Da er wegen dreier ausländischer Turniere in Folge erst drei Tage vor dem Start im Davis-Cup in Rumänien eintrifft, muss er hart trainieren. Jeden Tag bis zu drei Stunden. Dabei bildet sich eine große Blase auf der Innenfläche seiner rechten Schlaghand.

Ob wohl der Name des Hotels ein gutes Omen ist, in dem er mit seinen Kollegen wohnt? Es heißt „Triumf“ und wird von Miliz sowie Securitate streng bewacht. „Der Druck ist sehr groß“, erzählt Nasty, wie er in der ganzen Welt liebevoll genannt wird. Das kommunistische Regime tut alles für den sportlichen Erfolg, um dadurch die Überlegenheit seines Systems zu demonstrieren. Der Sieg über die Amis soll das Tüpfelchen auf dem i werden. 

Bis jetzt ist für die Rumänen alles glatt gelaufen: 5:0 gegen die Schweiz und den Iran, 4:1 über Italien, 3:2 gegen den großen Bruder UdSSR sowie 4:1 im Halbfinale über Australien. Und nun ist Titelverteidiger USA dran. „Alle sagen, dass wir sicher gewinnen werden“, meint Alexandru Lăzărescu, Generalsekretär des Rumänischen Tennis-Verbandes. Es ist sein drittes Endspiel um den Davis-Cup mit Rumänien gegen die USA. Nicht nur er, sondern das ganze Land befindet sich im Tennisfieber.
Die beiden US-Spieler jüdischer Herkunft sind mit nach Bukarest gekommen. Doch der amerikanische Kapitän Dennis Ralston wird sie aus Vorsicht nicht im Finale einsetzen. Als eines Tages der Aufzug im Interconti klemmt, fährt den Amis der Schreck in die Glieder. Sie befürchten einen Anschlag. Doch der Defekt wird rasch behoben. Es geht hinauf in die zwölfte Etage, die komplett für die ausländischen Gäste reserviert ist. Wenn sie abends aus der Mitte des Hotels durch die Fensterscheiben blicken, fühlen sie sich ein wenig wie zuhause. Der Magheru-Boulevard erstrahlt in hellem Licht. Die Leuchtreklamen funkeln und glitzern. Darunter sind zwar keine von ausländischen Firmen, sondern von rumänischen wie dem 1926 gegründeten Traditionsunternehmen für Strümpfe und Unterwäsche Adesgo. Bukarest erweckt den Anschein einer mondänen Stadt, durch deren geschäftige Straßen ein Hauch von Freiheit zu wehen scheint. In Rumänien herrscht politisches Tauwetter und keine Spur von Personenkult. Dieser sollte erst zwei Jahre später aufkommen, als Ceauşescu zum Staatspräsidenten gewählt werden wird. So verwundert es nicht, dass jetzt in vielen Schaufenstern nicht seine Porträts hängen, sondern die der Tennisspieler Ilie Năstase und Ion Ţiriac. Beide sind Volkshelden in ihrem Heimatland.

Der 13. Oktober 1972 ist ein Freitag. Und das Progresul-Stadion auf Hochglanz poliert: Die Treppen sind repariert, die Wände frisch gestrichen, die Sanitäranlagen in den Spielerkabinen erneuert, ein Saal für Pressekonferenzen eingerichtet und die Zuschauerkapazität von 2500 auf 6500 Plätze erweitert worden. An diesem Tag sind alle belegt. Das Stadion in der Dr.-Staicovici-Straße hat eine lange Tennistradition. Früher war hier der Rumänische Tennis Club untergebracht, nach dem Krieg wurde es „Spartac Finanţe Bănci“ genannt. Seit 1950 heißt es Progresul. 

Auf dem roten Sand des Spielfeldes stellen sich die beiden Mannschaften auf. Die rumänische Fahne flattert im Wind. Andächtig lauschen Kapitän Ştefan Georgescu und die Spieler Ilie Năstase, Ion Țiriac, Petre Mărmurea-nu sowie Toma Ovici den Klängen der Nationalhymne „Te slăvim, Românie“ („Wir preisen Dich, Rumänien“). Die Spieler tragen rote Sakkos, weiße Hemden, Krawatten in den Nationalfarben blau-gelb-rot und weiße Hosen. Diesmal erklingt die richtige Hymne. Drei Jahre vorher beim ersten Finale in Cleveland wurde noch die falsche gespielt. Als die Königshymne ertönte, verließ Țiriac aus Protest den Platz. „Am nächsten Tag haben sie dann die richtige aufgelegt“, erzählt Ion.

Vor ihm und seinen Kollegen steht der begehrenswehrte Davis-Cup. Er ist am 29. September mit einem Flugzeug der Lufthansa aus den USA nach Bukarest gebracht und im Dalles-Saal in der Nähe des Universitätsplatzes ausgestellt worden. Tausende Menschen schauen sich den berühmten Pokal an. Im Stadion thront er auf drei Holzsockeln mit Silberplatten, in welche die Namen der Sieger und Finalisten eingraviert werden. Er ist 110 Zentimeter hoch, hat einen Durchmesser von 107 Zentimetern und wiegt stolze 105 Kilogramm. Die Trophäe ist aus Sterlingsilber, wurde in Boston hergestellt und am 9. Februar 1900 für tausend Dollar von Dwight Filley Davis gekauft. Er hat im gleichen Jahr einen Tenniswettbewerb für Mannschaften ins Leben gerufen, der später nach ihm benannt werden sollte. Der ehemalige Kriegsminister der USA starb 1945. Dennoch sitzt jetzt ein Davis im Stadion. Es ist Dwight Davis Junior, der mit der amerikanischen Delegation nach Bukarest gekommen ist. Er hat den nach seinem Vater benannten Pokal im Visier. Viele nennen ihn wegen seines Aussehens die „hässlichste Salatschüssel der Welt“.

Die Auslosung der fünf Spiele findet tags zuvor im Zentralen Haus der Armee statt, durchgeführt von zwei jungen rumänischen Tennisspielerinnen: Virginia Ruzici (17) trägt Volkstracht und sollte sechs Jahre später die French Open in Roland Garros im Einzel und Doppel gewinnen. Mariana Simionescu (15) wird acht Jahre später in Bukarest den damals weltbesten schwedischen Tennisspieler Björn Borg heiraten.

Die rumänische Metropole ist für drei Tage Welthauptstadt des Tennis. „Die Amerikaner werden es als Titelverteidiger nicht leicht haben“, prophezeit die französische Nachrichtenagentur France Presse. Obwohl in den USA 22 Millionen Tennis spielen, so viele wie Rumänien an Einwohnern hat. Die Rechnung der Hausherren ist simpel: Năstase gewinnt seine beiden Einzel und zusammen mit Țiriac im Doppel. Das würde reichen. Zwei Jahre vorher haben Năstase/Țiriac das Doppelturnier beim Grand Slam in Roland Garros gewonnen. Das fand genauso auf rotem Sand statt wie jetzt die Spiele in Bukarest. Dieser rote Sand behagt den Amis ganz und gar nicht, vor allem ihrer Nummer eins Stan Smith. Langsamer roter Sand ist sein unbeliebtester Untergrund, weil dessen Oberfläche sein Angriffsspiel stark neutralisiert.

Die Auslosung hat ergeben, dass gleich im ersten Match die beiden besten Spieler ihrer Länder aufeinandertreffen: der drahtige Stan Smith und der vor Spielwitz sprühende Ilie Năstase. Ein Knüller zum Auftakt. Pünktlich zum Start beginnt die Sonne zu scheinen. Es wird immer heißer, in der Luft und auf dem Spielfeld. Das ganze Land schaut gebannt auf die Bildschirme. Im Fernsehen kommentiert ein junger Reporter, der zwei Jahre vorher bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko den Durchbruch geschafft hat, als er die Spiele der rumänischen Nationalmannschaft übertrug. Sein Name ist Cristian Țopescu. Mit seiner emotionalen leidenschaftlichen Art reißt der 35-Jährige die Zuschauer mit. So auch Seppi Zippel in Sanktandreas, im Haus Nummer 125, gleich neben der Entbindungsstation. Blaue Augen, blondes Haar, vor zweieinhalb Monaten zwölf Jahre alt geworden, saugt Seppi neugierig und interessiert jedes Sportereignis in sich auf. Vom Tennisendspiel hat er aus der „Neuen Banater Zeitung“ erfahren. Jetzt schaltet er den Fernseher Miraj 3 ein. Er wurde vor drei Jahren gekauft, kostete 4100 Lei. Ein kleines Vermögen.

Seppi kennt die Tennisregeln nicht, vom langhaarigen Năstase hat er schon gehört, von seinem Gegner nicht. Der ist selbstsicher und abgebrüht. Beide hauen sich die Bälle nur so um die Ohren, gehen an ihre Grenzen. Seppi fiebert mit, seine Augen glänzen. Ilie wischt sich immer wieder den Schweiß aus den langen Haaren. Aber nicht mal der langsame Sand kann den souveränen Smith bremsen.    

Der erste Satz ist hart umkämpft. Smith holt ihn schließlich mit 11:9. Năstases Widerstand ist gebrochen, der Rest Formsache. Die Blase auf seiner Hand schmerzt, der Schläger reibt sie noch mehr auf. Smith gewinnt den zweiten Satz locker 6:2 und führt im dritten 5:3. Er schlägt zum Matchgewinn auf. Beim Stand von 40:15 braucht er noch einen Punkt. Er drischt Năstases Vorhandball volley ins rechte Eck. Ilies Rückhandschlag bleibt im Netz hängen. Spiel, Satz, Sieg für die USA. Smith springt locker übers Netz, geht tröstend auf den Verlierer zu, reicht ihm die Hand. Der Rumäne lässt den Kopf hängen. Was wird es ihm bringen, wenn er den gleichen Smith kurze Zeit später beim Mastersfinale in Barcelona besiegen und zum zweiten Mal in Folge Weltmeister werden wird? Wenn er ausgerechnet hier in Bukarest vor den Augen seiner erwartungsvollen Landsleute versagt hat.

Er ist untröstlich. Wie Seppi Zippel im 550 Kilometer entfernten Andrees. Er trinkt vor Nervosität ein Glas Wasser nach dem anderen. „Ich hasse Smith“, schießt es ihm durch den Kopf. „Er hat eine so starke Körperanspannung, die sich auf mich überträgt.“ So ergeht es vielen Zuschauern. Aber nicht deshalb hat Năstase verloren. „Es ist unmöglich, so zu planen, dass ich ausgerechnet im Davis-Cup-Finale in Hochform bin“, sagt er. Viele Landsleute verdächtigen ihn, das Spiel verkauft zu haben. Einige Zuschauer wollen sein Auto anzünden. Selbst Kollege Țiriac macht ihm schlimme Vorwürfe: „Du hättest eine Woche früher nach Bukarest kommen müssen, hast meinen Lebenstraum zerstört.“ 

Deshalb wird Țiriac alles versuchen, sein nachfolgendes Spiel gegen Tom Gorman zu gewinnen. Dabei ist ihm jedes Mittel recht. Er bezeichnet sich selbst als den „besten Tennisspieler der Welt, der kein Tennis spielen kann.“ Țiriac ist nicht nur von der Erscheinung her ein dunkler Typ: schwarzes Haar, schwarzer Schnäuzer, dunkle Augen. Er hat etwas Mysteriöses und Finsteres an sich. Schon lange kursiert das Gerücht, er sei ein Spitzel der Securitate.

Jetzt beginnt seine Partie gegen Gorman. Auch der fühlt sich nicht wohl auf Sand. Genau deshalb haben ihn die Rumänen als Untergrund ausgewählt. Trotzdem holt der Ami die ersten beiden Sätze. Seppi Zippel wird immer nervöser in Sanktandreas im Haus gegenüber dem Kulturheim. Er springt zwischen Stuhl und Sofa hin und her, schaukelt sich hoch. Zum Glück ist er allein im Wohnzimmer mit dem geliebten Kachelofen. Die Eltern sind in der Arbeit, Bruder Franz hat kein Interesse am Tennis. Ein Nachbarmädel schaut vorbei, nimmt aber schnell Reißaus. Es ist nicht auszuhalten mit dem wuseligen Blondschopf.

Auch nicht mit Țiriac. Der wendet alle Tricks aus seinem „dunklen“ Repertoire an. Wenn Gorman aufschlagen will, blickt er zu Boden, so dass sich dessen Aufschlag verzögert. Er trägt einen Stuhl ans Netz, um den Gegner zu ärgern. Diskutiert mit den rumänischen Linienrichtern, die mehrere Bälle von Gorman außerhalb des Spielfeldes werten, obwohl sie drin waren. Țiriacs Rechnung geht auf, obwohl er nach Sätzen mit 0:2 zurückliegt. Er gewinnt die folgenden drei Sätze und das Spiel 4:6, 2:6, 6:4, 6:3, 6:2. Die amerikanische Delegation ist wegen seiner Tricksereien außer sich vor Wut. In der Kabine fordert Doppelspieler Erik van Dillen seine Kameraden auf, vorzeitig abzureisen. „Das können wir nicht tun. Es wäre, als würden wir die Rumänen ein zweites Mal gewinnen lassen“, beruhigt Ersatzmann Harold Solomon die erhitzten Gemüter. Beim Blick auf den in der Zimmerecke stehenden Röhrenfernseher mit der braunen Wurzelholzverkleidung und den Chrom-Zifferblättern auf isoliertem Hintergrund wird auch Seppi in Andrees etwas ruhiger. Es steht 1:1, alles ist wieder offen. Er schöpft neue Hoffnung. Und Țopescu stachelt die Zuschauer mit seinem temperamentvollen Kommentar an. So auch den barfüßigen Seppi, der mit den Beinen wippt und total fokussiert auf den Bildschirm blickt.

Der 14. Oktober 1972 ist ein Samstag. Heute steht das Doppel zwischen Năstase/Țiriac und Smith/van Dillen an. Nicht nur Seppi Zippel bewundert Năstases Talent, sondern auch dessen Kollege Țiriac: „Ich muss viel mehr arbeiten als er. Wenn Ilie anderthalb Stunden trainiert, sind es bei mir sechs.“ Das rumänische Duo ist eingespielt, hat in den vergangenen sechs Jahren hunderte Partien zusammen bestritten. Ilie und Ion haben eine immer wiederkehrende Freundschaft, die ihre emotional aufgeladenen Temperamente widerspiegelt. Năstase ist sieben Jahre jünger als Țiriac, war früher dessen Balljunge und hat sich so manchen Trick von ihm abgeschaut. Doch die jetzigen Reibereien zwischen ihnen beeinträchtigen ihre Form. Und van Dillen macht das Spiel seines Lebens. Die USA liegen mit 2:0 nach Sätzen vorne. Erster Aufschlag Smith im neunten Spiel des dritten Satzes. Der Ball geht ins Netz, erst im zweiten Versuch drüber. Țiriacs Vorhandball wird von Smith volley genommen, die Filzkugel streift das Netz, springt fünfmal im rumänischen Feld auf. Năstase ist zu weit weg, kann sie nicht mehr erreichen. Das war՚s. Die Gäste siegen souverän 6:2, 6:0, 6:3 und führen mit 2:1. Ist das schon die Vorentscheidung gewesen? Morgen müssen die Rumänien ihre beiden Einzel unbedingt gewinnen, um doch noch als erstes osteuropäisches Land den begehrten  Davis-Cup zu holen. Kein leichtes Unterfangen. Aber der bangende Seppi klammert sich in Sanktandreas genauso an den letzten Strohhalm wie die fanatischen Zuschauer im Progresul-Stadion, die einen Höllenlärm wie bei einem Fußballspiel machen.

Der 15. Oktober 1972 ist ein Sonntag. Der Morgen dämmert kalt und grau. Über der rumänischen Hauptstadt hängt eine dicke Luft. Das schwere Wetter passt zur turbulenten Endspielstimmung. Im vorletzten Spiel stehen sich Țiriac und Smith gegenüber. Der Rumäne muss siegen, um auszugleichen. Dann kann Năstase im letzten Spiel doch noch das Wunder vollbringen. Seppi Zippel rutscht in Andrees unruhig auf seinem Stuhl herum. Smith weiß, dass Țiriac alle Register ziehen wird, um ihn aus der Fassung zu bringen. Doch diesmal gelingt es dem ominösen Ion nicht, in Smiths Kopf einzudringen, obwohl der nach einer Trickserei Țiriacs den Ball wütend in dessen Richtung schlägt. Ion holt zwar den ersten Satz, doch Smith dreht das Spiel, sein Gegner gleicht mit allerletztem Einsatz zum 2:2 nach Sätzen aus. Es geht in den alles entscheidenden fünften Satz – und Tiriac die Puste aus. Smith spielt sein bestes Tennis auf Sand, führt schnell 5:0. Aufschlag Țiriac beim Stand von 0:40. Drei Matchbälle für Smith! Der Rumäne greift an, rennt ans Netz. Doch gegen Smiths präzisen Passierball hat er nicht den Hauch einer Chance. Der Ami wirft den Schläger vor Freude in die Luft. Mit 4:6, 6:2, 6:4, 2:6, 6:0 hat er nicht nur dieses Spiel gewonnen, sondern auch den Titel verteidigt. Im fernen Andrees bricht für den traurigen Seppi Zippel eine Welt zusammen. Die USA führen uneinholbar mit 3:1, Năstase kann beim 6:1, 6:2, 5:7, 10:8 über Gorman nur noch Ergebniskorrektur betreiben und auf 2:3 verkürzen. Die Zuschauer sind niedergeschlagen, auch Seppi. „Die Finalniederlage ist ungerecht“, denkt er. So empfinden es viele. Ihr einziger Trost: Diese Niederlage ist fast so schön wie ein Sieg. Denn Rumänien hat den Amerikanern in einem großartigen Kampf erbittert Paroli geboten. „Deshalb sehe ich die Niederlage nicht als Misserfolg“, sagt Năstase. Zu Recht. „Eine stolz getragene Niederlage ist auch ein Sieg“, so die mährisch-österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach.

Nach dem Spiel empfängt Staatschef Nicolae Ceauşescu beide Teams. Năstase hat nicht viel Zeit, er muss zum Masters nach Barcelona, wo er Smith im Finale bezwingen wird. In Bukarest hat՚s nicht geklappt. Die Erwartungen des ganzen Landes haben zu schwer auf seinen Schultern gelastet. Kein Wunder, dass er seine besten Partien außerhalb Rumäniens absolviert. Er spielt sehr gerne für sein Heimatland, obwohl er so gut wie kein Geld dafür bekommt. Pro Tag erhält er gerademal zweieinhalb Dollar an Spesen für Verpflegung und Übernachtung – im Gegensatz zu den hohen Preisgeldern bei ausländischen Turnieren. Er widerspricht einer weitverbreiteten Meinung: „Ich muss keinen gewissen Prozentsatz meines Verdienstes an den rumänischen Staat abführen.“ 

Ilie verlässt den Empfang im Zentralkomitee vorzeitig und sieht am Ausgang eine Frau mit Kopftuch stehen, angelehnt an eine Mauer. Als er auf das auf ihn wartende Auto zugeht, ruft ihm eine weibliche Stimme hinterher: „Genosse Năstase, können wir reden?“ Er dreht sich um und erkennt erst jetzt die Frau. Es ist Elena Ceauşescu. Sie sagt: „Junge, Du kannst beruhigt sein. Ich und Nicu sind überzeugt, dass Du das Spiel nicht verkauft hast. Wir wissen, dass Du mit ganzer Seele Patriot bist.“
Ich bin in jenem Jahr ein Junge mit 14 Jahren und wünsche mir nichts sehnlicher, als Sportreporter zu werden. In Bukarest gibt es die einzige Journalistenschule des Landes. Deshalb besuche ich eine befreundete Großjetschaer Lehrerin, die in der Hauptstadt an einer deutschsprachigen Spezialschule unterrichtet, unter anderem Jean Maurer, den Sohn aus zweiter Ehe des damaligen Ministerpräsidenten Ion Gheorghe Maurer. 

Wir fahren zur Journalistenschule. Dort erfahre ich, dass sie ausschließlich von Parteimitgliedern besucht werden darf. Aber: Erstens habe ich nicht das entsprechende Alter, und zweitens wird eine solche Mitgliedschaft ohnehin für mich niemals in Frage kommen.

Trotz Heimniederlage gegen die USA bricht in Rumänien ein Tennisboom aus, obwohl die notwendige Infrastruktur fehlt. Viele Menschen wollen es Țiriac und Năstase nachmachen, so auch in Engelsbrunn bei Arad. Mehrere junge Burschen, darunter Franz Schmelovski, errichten einen Tennisplatz, umzäunen ihn, fertigen ein Eingangstor an. Als Spieluntergrund karren sie rote Asche aus der nahen Ziegelei herbei. Und es stört sie nicht im Geringsten, dass der Platz neben dem Friedhof liegt. Hauptsache, sie können ihr geliebtes Tennis spielen. Die Regeln schauen sie sich von Năstase und Țiriac im Fernsehen ab. Im Gegensatz zu denen bestehen ihre Schläger aus Holz, angefertigt von Landsmann Hans Lukatschewitsch in der Arader Möbelfabrik. Alle sind Enthusiasten, die sich einer für sie neuen Sportart mit Leib und Seele verschreiben. Gespielt wird im Einzel und Doppel. Das geht drei Jahre lang so.

Was sind schon drei Jahre im Vergleich zu fünfzig? Denn jetzt machen wir einen Zeitsprung aus der Gegenwart des Jahres 1972 in jene des Jahres 2022. Das Leben zieht an uns vorbei, der Spiegel zeigt die Spuren der Zeit. Ilie Năstase hat immer noch lange Haare, wenn auch ergraut. Er ist mit 76 Jahren der charmante Playboy von anno dazumal geblieben, hat fünfmal geheiratet und sechs Kinder, darunter zwei adoptierte. Ion Țiriac ist mit 83 Jahren und 33 Kindern (davon 30 uneheliche) ein in jeder Hinsicht potenter Mann, der mit einem Vermögen von 1,6 Milliarden Euro zu den reichsten Rumänen gehört. Er macht seine Geschäfte mit Versicherungen, Immobilien und Autos. Den markanten Seehundschnauzer trägt er immer noch. Er ist jedoch nicht mehr schwarz, sondern weiß. Aus Seppi ist Sepp Zippel geworden. Mit 62 Jahren hat er die Rente in Sichtweite, zwei Enkelsöhne und eine erfolgreiche Blasmusikkarriere hinter sich, davon zwanzig Jahre als Kapellmeister der Freiburger Eisenbahner Musikanten. Franz Schmelovski spielt nach seiner Ausreise vor 36 Jahren immer noch Tennis und beweist mit 72 Jahren sowie sechs Enkelkindern (darunter zwei Zwillinge), dass alte Liebe nicht rostet. Und der Schreiber dieser Zeilen hat es auch als Nichtparteimitglied geschafft, Sportjournalist zu werden und als solcher mittlerweile 38 Berufsjahre auf dem Buckel. Alle fünf blicken auf ein erfülltes Leben zurück. Ganz im Sinne des Spruchs der französischen Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir, der mir vor zwei Monaten eingefallen ist, als Gerti und ich während eines Zehntagetrips in Paris vor ihrem ehemaligen Haus standen: „Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein.“

Kommen Sie gut durch die Zeit!