An einem sonnigen Spätsommertag saß ich in der Kantine des Temeswarer Pressehauses bei einer Tasse Kaffee, als zwei Kollegen der staatlichen Nachrichtenagentur Agerpres (die heute immer noch existiert) aus Bukarest eintraten. Wir kannten uns. Sie fragten mich, ob ich ihnen in ihrem Auto den Weg zum Maschinenbauunternehmen UMT zeigen würde. Sie müssten dorthin, weil an jenem Tag der Staatspräsident und seine Frau nach Temeswar kommen und als ersten Betrieb UMT besuchen würden. Die hauptstädtischen Journalisten mussten für die Staatsmedien über den Arbeitsbesuch berichten. Gesagt, getan.
Wir fuhren durch abgesperrte Straßen, an deren Rand sich die Menschenmassen mit Fahnen und Spruchtafeln einzufinden begannen. Es war Mittwoch, der 14. September 1988. Nicolae Ceauşescu und seine Gattin landeten am Morgen auf dem Temeswarer Flughafen, wo sie von Ilie Matei, Erster Sekretär des Kreisparteikomitees Temesch der RKP, empfangen wurden. In ihrem Schlepptau war Altkommunist Emil Bobu. Von dort machte sich der Tross auf den Weg zum UMT-Betrieb. Kurz nachdem ich mit den Bukarester Kollegen dort angekommen war, trafen die hohen Gäste ein. Ich hatte keine Chance mehr, den Ort zu verlassen. Alles war von Miliz und Securitate hermetisch abgeriegelt. So blieb ich neben dem Agerpres-Auto stehen und erlebte das Ehepaar Ceauşescu aus nächster Nähe. Als der Besuch bei UMT beendet war, stieg ich zu den Kollegen in den Wagen, und wir fuhren in der offiziellen Autokolonne mit. Unser Pkw bildete das Schlusslicht. Es ging weiter zu den Betrieben Wollindustrie, AEM sowie Automobilfabrik (frühere Tehnometal).
Die schwarzen Limousinen rollten langsam durch Temeswar. Entlang der Trasse jubelten die Menschenmassen den Ceauşescus zu, schwenkten Fähnchen und riefen in Sprechchören verschiedene Losungen. So mancher, der mich kannte und im Wagen mit Sonderkennzeichen sitzen sah, machte große Augen, weil er sich nicht vorstellen konnte, wie ich dorthin gelangt bin und vor allem, was ich in Ceauşescus Kolonne zu suchen hatte. Im Grunde genommen gar nichts, und so habe ich die ganze Atmosphäre auch empfunden. Ich war lediglich einigen Kollegen behilflich gewesen.
Sicher haben einige Landsleute den Besuch nicht vergessen, weil viele Banater Schwaben damals in den erwähnten Betrieben gearbeitet und in den am Nachmittag besuchten Ortschaften Hodon, Lovrin sowie Gottlob gelebt haben. Dort war ich nicht mehr dabei und auch am nächsten Tag nicht, als der Staatschef auf einer großen Volksversammlung in Temeswar das neue Schuljahr eröffnet hat. Mit Nicolae Ceauşescu unterwegs in Temeswar – unverhofft kommt oft. Was damals keiner ahnen konnte: Es war der letzte Arbeitsbesuch von Nicolae und Elena Ceauşescu im Kreis Temesch. Fünfzehn Monate später wurden sie während des Umsturzes hingerichtet.
Die Agerpres-Kollegen hatte ich in der Hauptstadt kennengelernt. Gleich nach der Anstellung bei der NBZ nahm mich der um sechzehn Jahre ältere, legendäre Temeswarer Sportfotograf Branko Vuin unter seine Fittiche. Er führte mich nicht nur in die Banater Fußballwelt ein, sondern auch in die von Bukarest. Oft fuhren wir dorthin, besonders wenn berühmte Bundesligaspieler mit ihren Mannschaften kamen. So machte ich Interviews mit Allan Simonsen, Thomas Berthold, Preben Elkjaer-Larsen, Uli Stielike (siehe Banater Post, Nr. 14 vom 20. Juli 2022), Morten Olsen. In Bukarest lernte ich durch Branko die Crème de la Crème des rumänischen Sportjournalismus kennen: die „Sportul“-Redakteure Ioan Chirilă, Eftimie Ionescu, Mircea Tudoran (siehe „Banater Post“, Nr. 23-24 vom 15. Dezember 2021), Gheorghe Nertea, der Deutsch sprach, sowie Ioan Ochsenfeld, der aus Temeswar stammte und für die internationale Fußballrubrik zuständig war. Ich sehe Nani, wie er von Freunden genannt wurde, heute noch vor mir: In seinem verqualmten Büro tuckerten die Fernschreiber pausenlos und spien meterweise Meldungen von Nachrichtenagenturen aus der ganzen Welt aus. Daraus stellte er die bei den „Sportul“-Lesern sehr beliebte Rubrik über Auslandsfußball zusammen.
Ochsenfeld war gemeinsam mit dem langjährigen Herausgeber des „kicker“ Karl-Heinz Heimann in russischer Kriegsgefangenschaft und später jahrzehntelang Rumänienkorrespondent der führenden deutschen Fachzeitschrift aus Nürnberg. Bei der WM 1974 in Deutschland berichtete er vor Ort für „Sportul“ und wohnte bei seinen Verwandten in München. Chirilă sagte mal über Ochsenfeld: „Nani hatte ein Blaupunkt-Radio. Er hörte Nachrichten bei ausländischen Sendern, die wir sonst niemals erfahren hätten.“
Kaum zwei Monate in der NBZ-Redaktion machte ich mit Branko meine erste Dienstreise nach Bukarest. Im Europapokal der Landesmeister traf Dinamo auf den französischen Champion Girondins Bordeaux mit den Deutschen Gernot Rohr und Dieter Müller. Die Franzosen wohnten im abgeschirmten Flora-Hotel. Dort interviewte ich Dieter Müller für die NBZ und den NBZ-Volkskalender. Er ist zwar nicht so berühmt wie sein Namensvetter Gerd, hat aber etwas geschafft, was weder diesem noch Ronaldo, Messi oder Lewandowski gelungen ist. Am 17. August 1977 erzielte Dieter Müller in der Bundesliga beim 7:2 über Werder Bremen sechs Tore für den 1. FC Köln, jeweils drei pro Halbzeit. Sechs Treffer in einem Meisterschaftsspiel – das ist bis heute deutscher Rekord! Leider existieren keine Fernsehbilder davon. Denn es war ein Mittwochspiel, und für die Bundesliga gab՚s in den 1970er Jahren unter der Woche keinen Sendeplatz im deutschen Fernsehen.
Als ich das Interview mit Dieter Müller beendet hatte, plauderten wir noch ein wenig, Gernot Rohr gesellte sich hinzu, und am Ende unseres Gespräches wollten sie mir angesichts der prekären Lage in Rumänien Dollarnoten zustecken. „Bitte lasst das“, bat ich sie. Denn in der Hotellobby wimmelte es von Securitate-Leuten, die mich auf der Stelle festgenommen hätten. Gernot Rohr hat zuletzt zehn Jahre als Nationaltrainer in Afrika gearbeitet, spielte mit Nigeria bei der WM 2018 in Russland und beim Afrika-Cup 2019 in Ägypten. Dieter Müller, der übrigens in jener Saison 1977/78 zusammen mit Gerd Müller Torschützenkönig der Bundesliga mit jeweils 24 Treffern wurde, betreibt eine Fußballschule in Ronneburg bei Frankfurt am Main. Vor einem Monat waren es 45 Jahre seit seinem Rekord für die Ewigkeit.
Das letzte Mal bekam ich es mit der Securitate im Frühjahr 1989 zu tun. Im Jahr meiner Anstellung bei der NBZ verpartnerte sich der DDR-Bezirk Gera mit dem Kreis Temesch. Im Rahmen dieser Partnerschaft gab es neben anderen Austauschen auch solche zwischen Schülern, Schriftstellern und den Zeitungen „Volkswacht“ aus Gera sowie der „Neuen Banater Zeitung“. Jeweils zwei Journalisten von der „Volkswacht“ kamen jährlich zu Besuch nach Temeswar, im Gegenzug reisten zwei NBZ-Redakteure nach Gera. Für diese Austausche musste man den Behörden von der Redaktionsleitung vorgeschlagen werden. 1989 war ich zusammen mit einem Kollegen an der Reihe. Wir stellten Besuchsanträge für die DDR.
Zuvor hatten meine Eltern einen Ausreiseantrag eingereicht. Eines Tages kamen sie aus Großjetscha in die Redaktion und fragten mich, ob ich mit ihnen in „de Hof“ auf dem Republicii-Boulevard, unweit des Staatsgeschäftes, komme, wo die Behörde des Innenministeriums untergebracht war. Da ich einige Termine hatte, bat ich sie, den Antrag für mich zu stellen. Das rettete mir später den Kopf. Denn mein DDR-Reiseantrag landete zur Überprüfung bei Major Ion Adamescu, dem seitens der Securitate für die Temeswarer Presse zuständigen Sicherheitsbeamten. Klar, dass er dabei die von meinen Eltern eingereichten „Kleinen Formulare“ entdeckte. Der Major kam wütend in die Redaktion und machte der Leitung schwere Vorwürfe: „Guckt mal, wen Ihr für den Austausch mit Gera vorgeschlagen habt.“
Die damalige Chefredakteurin trat weinend in mein Büro und konfrontierte mich mit den Vorwürfen. Ich sagte, dass ich keinen Ausreiseantrag gestellt habe. Bei der graphologischen Untersuchung meiner Schriftprobe wurde festgestellt, dass die Unterschrift auf den Formularen nicht mit meiner übereinstimmte. Dadurch konnte ich noch ein Jahr bei der NBZ arbeiten und reiste mit meiner Familie nach dem Umsturz im Juni 1990 nach Deutschland aus. Der von der Securitate entdeckte Ausreiseantrag meiner Eltern war 1989 abgewiesen worden.
Der andere für den Gerabesuch vorgeschlagene NBZ-Kollege reiste somit allein in die DDR, kam aber nicht an, weil er sich in Budapest Richtung Deutschland abgesetzt hat. Ich hatte es umgekehrt geplant: Zuerst das Besuchsprogramm der „Volkswacht“-Kollegen in Thüringen zu absolvieren und erst auf dem Rückweg in Budapest auszusteigen.
Mein systemkritischer Bericht über den Fußballskandal 1988 konnte schließlich doch noch in Rumänien erscheinen – aber erst nach dem Umsturz. Am 17. März 1990 veröffentlichte die neugegründete Zeitung „Timişoara“ seine Übersetzung in ihrer Nummer 25, versehen mit einigen persönlichen Anmerkungen des Autors Harald Zimmerman. „Timişoara“ ist die Zeitung der Rumänischen Revolution, deren erste Ausgabe am 23. Januar 1990 in einer Auflage von 50000 Exemplaren erschienen ist. Das Blatt gibt՚s heute noch an den Kiosken, und nach wie vor brennt die Fackel der Revolution im Kopf der Zeitung. Ihr Herausgeber war die Gesellschaft Timișoara, die eines der wichtigsten Dokumente der Rumänischen Revolution verfasst hat – die „Proklamation von Temeswar“. In nächtelanger Arbeit haben meine NBZ-Kollegin Grete Lambert und ich den Text der Proklamation für die deutschsprachigen Journalisten aus dem Ausland übersetzt. Ich habe sogar auf den Platz meiner Sportrubrik in der NBZ verzichtet, um die Proklamation zu veröffentlichen, was die Kollegen von „Timişoara“ in ihrer Zeitung gewürdigt haben.
Kennengelernt hatte ich die Journalisten der Revolutionszeitung in der Druckerei. Dort mussten wir NBZ-Reporter einmal in der Woche am Abend nach dem regulären Dienst in der Redaktion hin, um die Seitenabzüge nach der Korrektur zu lesen. Oft gab es rumänische Agenturtexte aus Bukarest über Arbeitsbesuche Ceauşescus zu übersetzen und in die Zeitung zu stellen. Eine heikle Aufgabe, da man sehr aufpassen musste, um Fehler zu vermeiden. Dies gelang nicht immer. So übersetzte ein Kollege statt „Ceauşescu, der weise Führer“ versehentlich „Ceauşescu, der weiße Führer“. Dafür bekam er eine Gehaltsreduzierung. Wir vermieden möglichst die Verwendung des Wortes „fruchtbar“, weil daraus sehr leicht „furchtbar“ werden konnte. Und genauso wären die Konsequenzen für den Schuldigen gewesen.
Der verantwortliche Redakteur musste die fertigen Seitenabzüge unterschreiben und mit Stempel zum Druck freigeben. Diese Nachtdienste waren unbeliebt. Da ich von allen Kollegen am nächsten zur Druckerei wohnte, hätte man mich oft zu Sondereinsätzen hingeschickt. Deshalb vermied ich die Installation eines Festnetztelefons in meiner Wohnung, obwohl ich mehrere Male von der Generaldirektion der Post angeschrieben wurde. So, wie ich der einzige Journalist von vier Temeswarer Lokalzeitungen in vier Sprachen war, der kein Parteibuch hatte (siehe Banater Post, Nr. 4 vom 20. Februar 2021), so hatte ich als einziger Temeswarer Journalist keine private Festnetznummer. Ohnehin musste ich nach späten Fußballspielen oft genug vom Stadion in die Druckerei, wo ich aus Zeitgründen dem Schriftsetzer meinen Spielbericht aus dem Stegreif in die Tasten diktiert habe.
Tja, es waren manchmal turbulente, aber alles in allem schöne Zeiten. Leider sind einige Personen von damals nicht mehr am Leben. Branko Vuin, der in seiner Sportfotografenkarriere mehr als 4000 Fußballspiele sah, starb 2007 mit 65 Jahren, Grete Lambert ein Jahr später mit 66 und Harald Zimmerman 2017 mit nur 54. Der spätere Chefredakteur von „Timişoara“ erlitt beim Skifahren in Franzdorf im Banater Bergland einen Herzinfarkt. Mögen sie alle in Frieden ruhen.