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Mit Ramba-Zamba zum besten Fußball aller Zeiten

Stadion Ramón Sánchez-Pizjuán in Sevilla Foto: Helmut Heimann

Ausweis von Helmut Heimann als „Volkskorrespondent“ der Zeitung „Neuer Weg“

Kapitän Franz Beckenbauer (links) und Günter Netzer mit dem begehrten Henri-Delaunay-Pokal Foto: DFB

Vor 50 Jahren wurde die deutsche Nationalmannschaft erstmals Europameister - „Die schönsten Momente im Leben sind nicht die, in denen man atmet, sondern die, die einem den Atem rauben.“ (Rainer Maria Rilke)

Als Journalist habe ich oft den Begriff Ramba-Zamba in meinen Fußballberichten verwendet, besonders bei BILD, für die ich mehr als zwei Jahrzehnte gearbeitet habe und die am vergangenen 24. Juni ihren 70. Geburtstag gefeiert hat. In der größten Tageszeitung Europas wurde Ramba-Zamba im Laufe der Jahre zum geflügelten Wort. Wenn eine Mannschaft den Ball laufen ließ und den Gegner schwindlig spielte, schrieben wir von Ramba-Zamba und meinten damit ein Spektakel. Wer das Wortspiel Ramba-Zamba erfunden hat und warum – darüber machten wir uns keine Gedanken.

Genauso war es Jahrzehnte später beim Tiki-Taka, einem schnellen Kurzpassspiel mit hohem Ballbesitzanteil, das vom FC Barcelona kreiert wurde und entscheidenden Anteil an den großen Erfolgen der Katalanen mit dem argentinischen Ballzauberer Lionel Messi an der Spitze hatte. Im vergangenen Jahrhundert wurde in Deutschland vom Schalker Kreisel geschrieben. Der war wie das Tiki-Taka ein Spiel mit direkten kurzen Pässen, dank dem der FC Schalke 04 in den 1930er und 40er Jahren zahlreiche Titel gewann.

Während der Recherche für diese Kolumne fand ich heraus, was Ramba-Zamba bedeutet. Mein Kollege Oskar Beck schrieb am 27. Juni 2021 in „Welt am Sonntag“: „Sogar ein Ramba-Zamba haben die Deutschen in London einmal hingezaubert beim virtuosen 3:1 auf dem Weg zum EM-Sieg 1972. Beckenbauer war Ramba, Günter Netzer war Zamba, und Bundestrainer Helmut Schön schwärmte für den Rest seines Lebens: ,Wenn es mir schlecht geht, schaue ich mir dieses Video an.‘“

Der langjährige Sportbild-Reporter Raimund Hinko aus München berichtete in der größten europäischen Fachzeitschrift am 5. Mai 2021: „In der Nationalmannschaft ist sogar Franz Beckenbauer für Günter Netzer gelaufen. Als sich Netzer über knallharte, tretende Manndecker beschwerte und aufheulte: ,Ich schwebe in Lebensgefahr‘, rannte der Kaiser aus der Libero-Position ins Mittelfeld vor, und Netzer ließ sich nach hinten fallen. So entstand am 29. April 1972 eines der besten Länderspiele aller Zeiten, im Londoner Wembley-Stadion. Bei diesem 3:1-Sieg gegen die Engländer wurde das Ramba-Zamba geboren. Mit diesem Wechselspiel gewann Deutschland mit der spielstärksten Mannschaft der Geschichte anderthalb Monate später den EM-Titel.“

Am 23. April 2022 erklärte Günther Netzer in BILD das Ramba-Zamba aus seiner Sicht. Geführt wurde das Interview von Alfred Draxler, jahrzehntelanger BILD-Sportchef. Er war bei meinem Vorstellungsgespräch am 21. Februar 1991 in der damaligen Hamburger Zentralredaktion dabei. Eine Woche später wurde ich als fester Sportredakteur bei BILD eingestellt – und sollte es mehr als 22 Jahre lang bleiben.

Im Gespräch mit Draxler erinnerte sich Netzer: „In der Bundesliga bekam ich im Mittelfeld nur auf die Knochen. In jedem Spiel wurde einer auf mich abgestellt, der nur einen Auftrag hatte, mich umzubringen. Ich war großen Gefahren ausgesetzt. Irgendwann habe ich gesagt: Ich bin doch nicht lebensmüde. Deshalb haben wir in Gladbach dieses Wechselspiel mit unserem Libero Hans-Jürgen Wittkamp erfunden. Und dann habe ich gesagt: Wenn das schon mit dem Wittkamp so gut klappt, dann muss das doch mit dem Beckenbauer erst recht funktionieren. Also haben wir es gemacht.“ Und Bundestrainer Helmut Schön war damit  einverstanden. Netzer: „Er hat es abgenickt. Schön hatte die Gabe, uns Spieler bei Laune zu halten. Mehr war oft gar nicht nötig. Als er vor dem EM-Finale in Brüssel an der Tafel die Namen der sowjetischen Spieler markierte, hielt er plötzlich inne und sagte: ‚Ach, macht doch, was ihr wollt!‘ Für mich das größte Kompliment, das ein Trainer einer Mannschaft machen kann. Er vertraute uns.“ Dieses Vertrauen zahlte sich aus. Die Spieler gingen für Schön durchs Feuer – und Deutschland wurde erstmals Europameister.

An der Qualifikation nahmen 32 Länder in acht Gruppen teil. Die Gruppensieger qualifizierten sich fürs Viertelfinale mit Hin- und Rückspiel, aus dem die vier Gewinner in die Endrunde einzogen, die zwischen dem 14. und 18. Juni 1972 in Belgien stattfand. Deutschland schaffte in einer Gruppe mit Polen, der Türkei und Albanien als Erster den Sprung ins Viertelfinale. Die Runde der letzten Acht erreichte auch Rumänien als Sieger von Gruppe eins, schied aber in drei Begegnungen gegen Ungarn aus. Nach zwei Unentschieden (2:2, 1:1) gewannen die Magyaren das Entscheidungsspiel in Belgrad mit 2:1. Die „Tricolori“ spielten mit: Rică Răducanu – Lajos Sătmăreanu, Nicolae Lupescu, Cornel Dinu, Augustin Deleanu (52. Bujor Hălmăgeanu) – Ion Dumitru, Radu Nunweiler, Flavius Domide, Nicolae Dobrin – Mircea Lucescu, Alexandru Neagu, der den zwischenzeitlichen Ausgleich erzielt hatte. Was für Spieler! Danach lecken sich die Rumänen immer noch alle zehn Finger...

Doch zurück zu den Deutschen. Sie trafen im Viertelfinalhinspiel am 29. April 1972 im altehrwürdigen Londoner Wembley-Stadion auf Gastgeber England. Trainer Schön musste wegen der verletzten Wolfgang Weber, Karl-Heinz Schnellinger, Berti Vogts und Wolfgang Overath sowie der wegen des Bundesligaskandals im Jahr zuvor gesperrten Schalker Reinhard Libuda und Klaus Fichtel auf mehr als der Hälfte der Positionen umstellen. Der Lange mit der Mütze ließ folgende Notelf ran: Sepp Maier – Horst-Dieter Höttges, Georg Schwarzenbeck, Franz Beckenbauer, Paul Breitner – Siegfried Held, Uli Hoeneß, Günter Netzer, Herbert Wimmer – Jürgen Grabowski, Gerd Müller. Und aus der Not wurde eine Tugend. Die Deutschen begannen zu zaubern, was das Zeug hielt. War man von ihnen bis dato Kampffußball gewohnt, tanzten Beckenbauer und Netzer leichtfüßig im Doppelpass durch die englischen Reihen. Hoeneß (26.) gelang die 0:1-Führung, England glich durch Lee (77.) aus, ehe Netzer (84. per Elfmeter) und Gerd Müller (88.) mit einem Doppelpack innerhalb von vier Minuten den Sack zumachten. Es war der erste deutsche Sieg in England überhaupt. Und somit einer fürs Geschichtsbuch! 96800 Zuschauer im Wembley-Stadion, darunter 12000 aus Deutschland, und 22 Millionen daheim an den Fernsehgeräten rieben sich während der ZDF-Übertragung verwundert die Augen. „Stets findet Überraschung statt, da wo man’s nicht erwartet hat“, wusste der humoristische Dichter Wilhelm Busch. Der historische Sieg von Deutschland war die Revanche für das sechs Jahre zuvor gegen England in Wembley verlorene WM-Finale (siehe „Banater Post“, Nr. 16 vom 20. August 2021).

Der „kicker“ schrieb unter der Überschrift „Ein Sieg, den es nur einmal gibt“: „Manchmal gibt es keine fachlichen oder gar wissenschaftlichen Erklärungen, warum ein großes Team ,geboren‘ wird. Genau dies passierte an diesem nasskalten Samstag in London, wo eine geschwächte Verlegenheits-Mannschaft das Fundament legte für ihre erfolgreichste Zeit. Nie zuvor dominierte eine Nationalmannschaft derart.“ Die renommierte französische Sporttageszeitung „L’Équipe“ schwärmte 1972 vom „Fußball 2000“ und eine mexikanische Zeitung fragte bewundernd: „Wo nimmt der Bundestrainer nur immer wieder solche Spieler her?“

Der legendäre „kicker“-Chefredakteur und -Herausgeber Karl-Heinz Heimann analysierte: „Ich hoffe, das Wort vom deutschen Kraftfußball, das ja nie stimmte, ist jetzt endgültig in der Mottenkiste verschwunden.“ Und die „Gazzetta dello Sport“ aus Italien forderte: „Man müsste es gegen die Deutschen mit einem Maschinengewehr versuchen. Ohne ein solches kann man die Mannschaft nicht stoppen.“

„Sportbild“ bewertete diese Begegnung unter allen ausgetragenen Partien „als das größte deutsche Länderspiel aller Zeiten“. Die „Sportbild“ erschien erstmals am 24. Februar 1988. Unter ihrem ehemaligen Chefredakteur Pit Gottschalk (jetzt in gleicher Funktion beim Fernsehsender Sport1 tätig und dort gelegentlich im Doppelpass zu sehen) wurde das von mir geschriebene erste donauschwäbische Sportbuch in der Zeitschrift vorgestellt. 

Doch mit dem legendären Sieg in England war die Europameisterschaft noch lange nicht gewonnen. Das Rückspiel gegen die Briten zwei Wochen später in Berlin endete mit einer Nullnummer, und Deutschland stand im Halbfinale. Dort bezwang es am 14. Juni Gastgeber Belgien in Antwerpen mit 2:1, während die Sowjetunion am gleichen Tag in Brüssel Ungarn 1:0 schlug.

Das Endspiel zwischen Deutschland und der UdSSR stieg am 18. Juni 1972 vor 43066 Zuschauern im Heysel-Stadion von Brüssel. Es war eine einseitige Angelegenheit. Die Deutschen gewannen ihren ersten Europameistertitel souverän durch Tore von Gerd Müller (2) und Wimmer mit 3:0. Der frischgebackene Europameister spielte mit: Sepp Maier – Horst-Dieter Höttges, Georg Schwarzenbeck, Franz Beckenbauer, Paul Breitner – Herbert Wimmer, Günter Netzer, Uli Hoeneß – Jupp Heynckes, Gerd Müller, Erwin Kremers. Im Vergleich zum Englandspiel gab՚s zwei Veränderungen: Für Held durfte Heynckes ran und für Grabowski der Schalker Erwin Kremers. Es war eine Blockbildung aus sechs Bayern- und drei Gladbach-Spielern, den damals besten deutschen Vereinsmannschaften. Man hatte den Eindruck, als könne jeder DFB-Kicker alles spielen.

Die deutschen Fans konnten das Ende kaum abwarten und drängten sich in den letzten fünf Minuten zu Tausenden an den Außenlinien. Riesengroß war die Freude nach dem Schlusspfiff, als die Leute aufs Spielfeld stürmten und ihre Lieblinge umarmten. Kapitän Beckenbauer erhielt den begehrten Pokal. Torhüter Maier gestand: „Wir waren stolz wie Oskar und feierten nach dem Sieg ausgelassen wie nie zuvor: Auf der Fahrt zum Flughafen haben wir im Bus gesungen und gelacht wie kleine Kinder. So feiert man nur unerwartete oder besonders schöne Siege und Titel.“

Vor knapp einem Monat waren es 50 Jahre seit diesem grandiosen Triumph, dem 1974 in München der Gewinn der Weltmeisterschaft folgen sollte. Er war die Krönung einer goldenen Spielergeneration, wie es sie im deutschen Fußball seither nie mehr geben sollte. Daran hat sich auch durch den weiteren Gewinn von jeweils zwei Weltmeisterschaften (1990, 2014) sowie Europameisterschaften (1980, 1996) nichts geändert. „Aus Niederlagen lernt man leicht. Schwieriger ist es, aus Siegen zu lernen“, meinte der einstige Reichskanzler Gustav Stresemann. Die DFB-Elf hat das eindrucksvoll bewiesen, sonst wäre sie nicht so erfolgreich gewesen.

Was machen die Helden von 1972 heute?

Sepp Maier (78): Der Ex-Torwart lebt in Hohenlinden im oberbayerischen Landkreis Ebersberg. Er spielt oft Golf, hat Handicap 9. „Wer sagt, Golf sei langweilig, hat doch einen Schuss“, meint der Spaßvogel.

Horst-Dieter Höttges (78): Wurde zum Alkoholiker und in einer Suchtklinik erfolgreich behandelt. Kam im Herbst 2019 mit Demenz ins Pflegeheim.

Georg Schwarzenbeck (74): Wohnt seit der Kindheit im Münchener Stadtteil Harlaching. Er arbeitet im Garten, bastelt und geht mit seiner Frau Hannelore ins Theater.

Franz Beckenbauer (76): Lebt in einer Villa in der Kreuzbergpromenade im Salzburger Stadtteil Parsch. Der Kaiser hat sich angesichts gesundheitlicher Probleme (zwei Herzoperationen, Augeninfarkt, künstliches Hüftgelenk) weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. „Es geht ihm den Umständen entsprechend gut“, sagte seine dritte Ehefrau Heidrun. Und Franz meinte: „In meinem Alter kann man das Ende erahnen. Die Endlichkeit wird einem bewusst, auch wenn ich hoffe, noch viele Jahre zu haben.“

Paul Breitner (71): Wohnt im kleinen Ort Oberpframmern bei München. Seit 2006 ist er zusammen mit seiner Ehefrau Hildegard ehrenamtlich für die Münchner Tafel tätig, wo er im Stadtteil Haidhausen bei der Essensausgabe hilft. Er engagiert sich ebenso bei der Aktion Sonnenschein, die für die Integration behinderter Kinder zuständig ist.

Herbert Wimmer (77): Lebt in Aachen und wurde bereits fünfmal an der Hüfte operiert.

Günter Netzer (77): Bekam vor sechs Jahren in einer viereinhalbstündigen Operation sechs Bypässe gelegt. Er ist Schweizer Staatsbürger und wohnt seit 31 Jahren mitten in Zürich.

Uli Hoeneß (70): Ist Mitglied des Aufsichtsrates und Ehrenpräsident des FC Bayern München. Lebt seit 2005 oberhalb von Bad Wiessee am Tegernsee.

Jupp Heynckes (77): Wohnt im 130-Seelen-Örtchen Fischeln, Gemeinde Schwalmtal, am Niederrhein, auf einem restaurierten Bauernhof mit einem 5000-Quadratmeter-Grundstück. Er geht viel spazieren, arbeitet im Garten, wo es einen Fischteich gibt.

Gerd Müller: Ist der einzige EM-Held, der nicht mehr lebt. Der „Bomber der Nation“ verstarb am 15. August 2021 mit 75 Jahren nach jahrelanger Demenzerkrankung in einem Pflegeheim bei München. Mehr als 34000 Menschen aus 132 Ländern trugen sich in ein beim FC Bayern eingerichtetes digitales Kondolenzbuch ein. Das habe auch ich vier Tage nach seinem Ableben aus Ehrfurcht vor seinen großartigen Leistungen getan. An seinem ersten Todestag wird nächsten Monat in seiner Geburtsstadt Nördlingen eine Bronzestatue aufgestellt, die ihn beim Schuss zum 2:1-Siegtor im WM-Finale 1974 gegen Holland in München zeigen wird.

Erwin Kremers (73): Leitet den Schalker Golfkreis für soziale Zwecke und lebt in Haan zwischen Wuppertal und Düsseldorf.
Bundestrainer Helmut Schön starb am 23. Februar 1996 im Alter von 80 Jahren und ist in Wiesbaden begraben.

In der alten Heimat haben die Banater Schwaben den deutschen Triumph mit großer Begeisterung gefeiert. Auf den Dörfern ging die Post ab – wie in meinem Geburtsort Großjetscha. Ich war damals noch zu klein, kann mich nicht daran erinnern, dafür mein Landsmann Hans Götter umso mehr: „Die Kleinjetschaer Musikanten kamen mit einem Lkw der LPG nach Großjetscha. Er parkte vor unserem Tor, und die Männer zogen mit Blasmusik ins Wirtshaus gegenüber ein, in dem die Großjetschaer schon bei guter Stimmung ausgelassen feierten. Drei Häuser weiter wohnte der Milizmann Boitoș. Er kam in Zivil auf die Straße und hörte sich an, wie im Wirtshaus die Blasmusik aufspielte. Dann ging er wieder ins Haus zurück und erschien ein paar Minuten später in Uniform, stieg die Wirtshaustreppen hoch und blieb in der Tür stehen. Die Musik verstummte, es war plötzlich totenstill. Der Milizionär fragte: ‚Was ist denn hier los?‘ Dann traten ein paar Männer beschwichtigend auf ihn zu und luden ihn ein, im Hinterzimmer des Wirtshauses mitzufeiern. So ging die Party zuerst gedämpft, aber später wieder recht munter weiter. Ja, das waren schöne Zeiten.“

Acht Jahre später habe auch ich gefeiert – und wie! Als Deutschland 1980 zum zweiten Mal Europameister wurde, war ich 22 und im besten Alter dafür. Das Finale fand am 22. Juni 1980 in Rom statt. Deutschland schlug Belgien an jenem Sonntag durch zwei Treffer von Horst Hrubesch mit 2:1. Hatten Beckenbauer und Netzer 1972 Ramba-Zamba getanzt, waren es diesmal Hansi Müller und Bernd Schuster, ebenfalls ein fußballerisches Traumpaar.

Das Endspiel schauten sich etwa zwanzig Leute bei uns im Hof in Großjetscha an. Einige Kästen Bier standen bereit und der Fernseher im Kammerfenster. Übertragen wurde das Finale im Zweiten Jugoslawischen Fernsehen. Um den Sender zu sehen, war ein Konvertor notwendig. Heutzutage heißt sowas Receiver. Es war nicht leicht, an diese Geräte zu kommen. Ich kaufte eines bei den Jugos auf dem Markt in Hatzfeld. Die Spezialantenne für den Empfang wurde ebenfalls im Heidestädtchen angefertigt.
Ich kann mich noch so gut ans Endspiel erinnern, als wäre es gestern gewesen. Beim Abspielen der deutschen Hymne standen wir im Hof stramm und sangen mit. Nur mein rumänischer Nachbar von gegenüber und der orthodoxe Dorfpfarrer blieben sitzen. Gott hab sie selig. Als Hrubesch nach Eckball von Karl-Heinz Rummenigge in der vorletzten Minute per Kopf das Siegtor gelang, gab’s in Rom und bei uns im Hof kein Halten mehr. Damals war auch ein Rumäne im Finale dabei: Es wurde von Nicolae Rainea geleitet, einem der besten Schiedsrichter seiner Zeit.

Nach dem Abpfiff machten wir die Nacht zum Tage und zogen singend durchs Dorf. Ich rief regelmäßig die einzelnen Spielernamen und die anderen Kameraden bejubelten jeden einzelnen. Zu Recht. Denn unter Trainer Jupp Derwall zeigte die DFB-Elf während des Endturniers glänzende Leistungen und wurde verdient König von Europa.

Zwei Jahre später kam Deutschland ins WM-Endspiel, das es allerdings gegen Italien verlor. Das Halbfinale ging in die Weltgeschichte des Fußballs als die „Nacht von Sevilla“ ein. Deutschland lag gegen Frankreich im Stadion Ramón Sánchez-Pizjuán in der Verlängerung mit 1:3 zurück, schaffte noch den dramatischen Ausgleich und gewann das anschließende Elfmeterschießen. Vielen Zuschauern ist das Foul von Torwart Toni Schumacher am französischen Abwehrspieler Patrick Battiston in Erinnerung geblieben, der dabei drei Zähne verlor und sich einen Halswirbelbruch zuzog. Vier Jahre später ging unser Landsmann Helmut Duckadam an gleicher Stätte als „Elfmetertöter von Sevilla“ in die Annalen des Weltfußballs ein. Er hielt vier Strafstöße und holte mit Steaua Bukarest den Europapokal der Landesmeister. An diese beiden historischen Spiele musste ich denken, als wir vor acht Wochen während einer Rundreise durch Andalusien an diesem legendären Stadion in Sevilla standen.
Vor 42 Jahren beim Feiern auf den Großjetschaer Straßen wusste ich nicht, dass sich meine beruflichen Wege einige Jahre später mit denen von drei berühmten deutschen Nationalspielern kreuzen sollten, die zuerst Europa- und dann Vize-Weltmeister geworden sind: Uli Stielike, Karlheinz Förster und Hansi Müller. 

Stielike spielte acht Jahre lang bei Real Madrid. Von den deutschen Fußballern gelang dies nur noch Toni Kroos. Stielike wechselte von Real zu Xamax Neuenburg in die Schweiz und traf in der ersten Runde des UEFA-Pokals auf Sportul Studențesc Bukarest. Das Rückspiel fand am 3. Oktober 1985 in der rumänischen Hauptstadt statt. Ich arbeitete damals als Sportredakteur bei der „Neuen Banater Zeitung“ und fuhr zum Spiel, um Stielike zu interviewen.

Die Schweizer wohnten wie die meisten ausländischen Mannschaften, die nach Bukarest kamen, im Flora-Hotel. Es lag abgeschirmt in einer ruhigen Zone. Der Flieger der Eidgenossen hatte Verspätung. Stielike entschuldigte sich, obwohl er nichts dafür konnte. Ein Weltstar mit Manieren. Dann ging er kurz auf sein Zimmer, um das Gepäck abzustellen und kam anschließend zum Interview in die Hotellobby. Das Spiel am nächsten Tag endete 4:4. Gheorghe Hagi erzielte gleich drei Tore für Sportul Studențesc, Stielike gelang der Ausgleich zum Endstand. Der genügte Xamax zum Weiterkommen, denn das Hinspiel zwei Wochen vorher hatten die Eidgenossen mit 3:0 gewonnen. Rumäniens Jahrhundertspieler Hagi sollte ich drei Jahre später ebenfalls für die NBZ interviewen.

Uli Stielike traf ich nach neun Jahren in Deutschland wieder. Damals betreute ich als Sportreporter für BILD den Zweitligisten Waldhof Mannheim, dem mit Stielike als Cheftrainer in der Saison 1994/95 fast der Bundesligaaufstieg gelingen sollte. Drei Spiele vor Saisonschluss standen die Waldhof-Buben an der Tabellenspitze, scheiterten aber im Endspurt und rutschten noch auf den fünften Platz ab. Eine herbe Enttäuschung für Stielike, der nach Spanien zu UD Almeria in die 2. Liga wechselte.

1995 lernte ich Karlheinz Förster ebenfalls in Mannheim als Manager seines früheren Vereins Waldhof kennen. Er war anschließend in gleicher Funktion beim VfB Stuttgart tätig. Auch dort sahen wir uns regelmäßig. Ebenfalls bei den Schwaben traf ich Hansi Müller, der eine Zeit lang dem VfB-Vorstand angehörte. Ich habe Hansi Müller und Karlheinz Förster als umgängliche, sympathische und aufgeschlossene Menschen erlebt, mit denen man Pferde stehlen konnte. Uli Stielike hingegen war distanzierter, zurückhaltender und verschlossener. Während seiner Zeit bei Waldhof habe ich ihn kein einziges Mal lachen sehen.

Ganz anders der „schöne Hansi“, wie der Mädchenschwarm von der Jugendzeitschrift „Bravo“ bezeichnet wurde. Mit ihm habe ich unseren Dialekt gesprochen, weil seine aus dem früheren Jugoslawien stammenden donauschwäbischen Eltern ihn und seinen Bruder Klaus die Mundart gelernt haben, obwohl die Müller-Buben in Deutschland geboren sind. Hansis 2005 verstorbene erste Ehefrau Claudia war ebenfalls eine Donauschwäbin. 

Müller hat das Vorwort zu meinem Buch geschrieben, in dem er porträtiert wird und in dessen Titel sein Name vorkommt. Hansi ließ dieses erste donauschwäbische Sportbuch dem damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel zukommen, der mir in einem persönlichen Schreiben dazu gratuliert hat (siehe „Banater Post“, Nr. 13 vom 5. Juli 2022). Müller nahm auch an einer meiner Lesungen teil, die vom Kreisverband Reutlingen der Banater Schwaben veranstaltet worden war.

Hätte mir jemand 1980 in Großjetscha nach dem zweiten deutschen EM-Gewinn gesagt, dass ich mit drei Europameistern und Vize-Weltmeistern später mal beruflich zu tun haben werde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Damals war ich noch kein Sportjournalist, hatte drei Jahre vorher als Schüler des Hatzfelder Lyzeums beim „Neuen Weg“ mit der Mitarbeit als „Volkskorrespondent“  begonnen, wie diese journalistische Tätigkeit seinerzeit bezeichnet wurde.

Nicht nur in meinem Fall hat sich gezeigt, dass Hermann Hesse Recht hatte. „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen“, meinte der Nobelpreisträger für Literatur. Das hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft vor fünfzig Jahren versucht – und erreicht. Ihre großartige Leistung ist deshalb unvergessen geblieben und sie selbst in die Geschichte als beste deutsche Auswahlmannschaft aller Zeiten eingegangen. Mit Ramba-Zamba-Bomba – wie BILD vor 50 Jahren in Anspielung auf Bomber Gerd Müller geschrieben hat.

Kommen Sie gut durch die Zeit!