Auch in meiner Familie wanderten manche wie die Weissmüllers nach Amerika aus. Einige kehrten zurück, weil sie zu sehr an die Banater Scholle gebunden waren. Mein Großvater väterlicherseits arbeitete jahrelang als Verwalter in einem New Yorker Textillager. Dort war er sehr beliebt, sein Chef wollte ihn unbedingt halten. Doch Opa hatte andere Pläne. Er reiste nach Schimonydorf zurück, kaufte sich vom Ersparten Feld und Haus, heiratete eine elf Jahre jüngere Frau aus der Nachbargemeinde Zipar, bekam mit ihr in 23 Jahren 14 Kinder, die auf der ganzen Welt verstreut lebten. Mit einigen meiner Cousins habe ich mich auf unseren Fernreisen getroffen, so am weltbekannten Strand Copacabana in Rio de Janeiro, den donnernden Niagarafällen oder in Philadelphia, der Stadt, in der die Vereinigten Staaten gegründet wurden. Nur in Toronto klappte es nicht, weil meine Cousine Urlaub in China machte.
Das alles ging mir durch den Kopf, als wir wie einst die Weissmüllers an Lady Liberty vorbeifuhren. Sie stellt die römische Göttin der Freiheit Libertas dar. Zu gerne wären wir in ihrem Inneren bis zur Krone hochgestiegen. Doch die Freiheitsstatue wurde erst neun Monate nach unserem Besuch wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht – erstmals seit den Anschlägen von 2001.
Dafür sahen wir eine andere Attraktion, die es damals nur vier Monate lang in New York gab. Als wir uns während der Schifffahrt, auf der wir das imposante Panorama der Skyline von Manhattan bei prächtigem Herbstwetter genossen, der berühmten Brooklyn Bridge auf dem East River näherten, hörten wir ein gewaltiges Rauschen. Es klang wie Donnerhall, so als ob jemand aus großer Höhe ins Wasser gesprungen war. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. In seinem sechsten, 1942 gedrehten Film „Tarzans Abenteuer in New York“, dem einzigen, der in der Zivilisation spielt, flüchtete Weissmüller vor der Polizei. Auf der Brooklyn Bridge, der einst längsten Hängebrücke der Welt, die die Stadtteile Brooklyn und Manhattan verbindet, blieb ihm kein anderer Ausweg mehr, als aus 41 Metern Höhe in den Fluss zu springen, aber nicht im Tarzankostüm, sondern mit Hemd, Krawatte und Hose. „Ich habe meine Stunts immer selbst gemacht, mich nie doubeln lassen“, erklärte Johnny.
So muss es 66 Jahre vorher geklungen haben, als Tarzans Körper aus großer Höhe auf dem Wasser aufschlug. Aber jetzt kam das Geräusch von woanders her. Unter der Brooklyn Bridge und drei weiteren Brücken waren die „New York Waterfalls“ des Künstlers Olafur Eliasson installiert worden. Er hatte ein Gerüst aus filigranen Stahlstäben in den East River stellen lassen, von dessen oberer Kante gewaltige Wassermassen aus Düsen heruntergesprüht und -geweht wurden. Ein ohrenbetäubendes Geräusch, eine unvergessliche Augenweide, ein gigantisches Kunstobjekt der Superlative, das der Stadt New York zwischen Juli und Oktober 55 Millionen Dollar Mehreinnahmen eingebracht hat.
Die künstlichen Wasserfälle simulierten wie in den Tarzan-Filmen wilde Natur an den Ufern der Inselstadt. „Niagara so nah“, schlagzeilte die „Süddeutsche Zeitung“. Genauso empfanden wir es, als unser Schiff langsam durch die Brücke mit ihren neugotischen Steintürmen und kühn geschwungenen Spitzbögen fuhr, wir dabei die Monumentalität des Bauwerks samt Wasserfall bestaunten. Kurze Zeit später war das rauschende Spektakel ein für alle Mal Geschichte und wir zum Start einer Florida-Rundreise in Miami angekommen, der Traumstadt mit den vielen Luxusjachten und weißen Sandstränden.
Im Biltmore-Hotel, eine der emblematischsten Adressen der Stadt, das seinen zeitlosen Charme bewahrt hat, bewunderten wir in der Lobby die handbemalten Decken und verschnörkelten Kronleuchter, die die spanischen und maurischen Einflüsse widerspiegeln. Als wir eine Etage höher auf dem Balkon standen, erblickten wir ihn – nicht Tarzan, sondern den riesigen Swimmingpool: 2137 Quadratmeter groß, Fassungsvermögen 2270000 Liter Wasser – lange Zeit der größte Pool der Welt. Dort hat Weissmüller als Bademeister sowie Schwimmlehrer gearbeitet und für die Olympischen Sommerspiele 1924 in Paris trainiert, wo er drei Goldmedaillen gewonnen hat.
Zehn Jahre später waren wir auf der anderen Seite von Amerika unterwegs. Und auch an der Westküste entdeckten wir die Spuren von Johnny Weismüller, vor allem in Hollywood. Er war der erste Sportler, der in den Studios der Filmmetropole als Schauspieler Karriere gemacht hat. „Ich ging in den Dschungel mit fünf Goldmedaillen, und heraus kam ich mit zehn Tonnen Gold“, pflegte der Goldschürfer aus Freidorf zu sagen.
Die Tarzan-Filme machten ihn noch berühmter und reicher, als er es als Rekordschwimmer schon war. Verständlich, dass er 1960 einen Stern auf dem weltberühmten Walk of Fame bekam. 2018 schlenderten wir über den sich über fünfzehn Häuserblöcke erstreckenden berühmten Gehweg zu beiden Seiten des Hollywood Boulevard, sahen neben vielen anderen aus altrosafarbenem Terrazzo sowie Messing bestehenden Sternen auch jenen von Weissmüller, dessen Niederlegung und Pflege mit 50000 Dollar genauso viel gekostet hat wie die der anderen Berühmtheiten aus Film, Fernsehen, Theater und Musik.
Nur wenige Kilometer von Hollywood entfernt fuhren wir durchs Nobelviertel Beverly Hills, Heimstätte vieler Stars, darunter Johnny Weissmüller mit seiner dritten Ehefrau Lupe Vélez, einer feurigen mexikanischen Tänzerin und Schauspielerin. Da sahen wir es schon von weitem – das Kulthotel „Beverly Hills“, wo Weissmüller als Tarzan entdeckt wurde. 1932 sprang er dort in den Hotelpool, um ein Mädchen vor dem Ertrinken zu retten. Der Filmregisseur sah ihn und engagierte ihn vom Fleck weg als Tarzan.
Wegen seiner rosafarbenen Fassade ist das Hotel weltbekannt. Die Rockgruppe Eagles hat dem Lieblingshaus der Schönen und Reichen mit seinem pinken Äußeren 1976 den Kulthit „Hotel California“ gewidmet und sein Foto aufs Plattencover genommen. Wie oft habe ich diesen Song bei Radio „Europa Liberă“ in den nachmittäglichen Sonntagssendungen „Metronom“ mit Radu Teodor gehört, besonders sommersüber im elterlichen Hof in Großjetscha. Gespielt wurden mehrere Stunden lang Lieblingshits von Hörern, die ihre Wünsche anonym und auf riskanten Umwegen dem in Rumänien verbotenen Radiosender in München zukommen ließen.
Während unseres Aufenthaltes in San Francisco traten die Eagles in dem an der Pazifikbucht gelegenen Baseballstadion auf. Hauptattraktion der malerischen San Francisco Bay ist die Golden Gate Bridge, das Goldene Tor in orangerot leuchtender Farbe, das wir staunend zu Fuß überquert haben. Das Konzert war restlos ausverkauft, wir bekamen keine Tickets mehr, da wir erst an jenem Tag in der Stadt mit ihren vielen bunten viktorianischen Häusern angekommen waren. Beim Schreiben dieser Kolumne habe ich mir den beliebten Song auf YouTube angehört. Er hat mehr als 51 Millionen Aufrufe. Tarzan, Hotel California, Radio „Europa Liberă“, Großjetscha. O tempora! O mores!
Etwas später begegneten wir den Spuren von Johnny Weissmüller zum letzten Mal, diesmal in Las Vegas, dem schillernden und glitzernden Glücksspielparadies mitten in der Mojave-Wüste. Dort hatte er sich 1963 mit der deutschen Schauspielerin Maria Baumann trauen lassen. Er war 59, sie 41 – und seine fünfte Ehefrau. Die Hochzeit erregte kaum noch Aufsehen, denn Johnnys Ruhm war schon ziemlich verblasst. Er hatte stets nach den Worten des Journalisten Kurt Tucholsky gehandelt: „Lasst uns das Leben genießen, solange wir es nicht begreifen.“
Tarzan war dick geworden, das Gesicht voller Falten. Wie viele andere Stars hatte er sein Vermögen verprasst, nach einem Leben in Saus und Braus mit vier Scheidungen. Deshalb nahm er 1973 einen Job als Empfangschef im Caesar՚s Palace an, wo er die Gäste am Eingang begrüßte. Wie gewonnen, so zerronnen, musste ich denken, als wir durch das im Stil eines antiken römischen Palastes erbaute Hotelcasino mit seinen prunkvollen Säulen, glänzenden Statuen, funkelnden Wasserfontänen und fast 4000 eleganten Zimmern spazierten. Eine irreale Wunderwelt im berühmtesten Casino von Las
Vegas. Wir trauten unseren Augen nicht angesichts von so viel Glanz, Glamour und architektonischem Wahnsinn. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Johnny Weissmüller die Gäste am Eingang per Handschlag empfing. Gerne hätte ich die Zeit zurückgedreht.
Egal, denn ohnehin werde ich für immer mit Tarzan verbunden bleiben: Mein Sportbuch, das erste donauschwäbische überhaupt, hat seinen Namen im Titel, sein Foto auf der Umschlagseite und seine filmreife Biografie im Inneren. Ich habe sie genauso wie diese Kolumne mit Ehrfurcht, Anerkennung und Bewunderung für seine außergewöhnlichen Leistungen geschrieben.
Auch in Großjetscha wurde ich an Tarzan erinnert. Eines Tages brachte mein Vater in seiner Briefträgertasche am Fahrrad einen jungen Hund mit. „Er heißt Tarzan“, schmunzelte er. Der Vorbesitzer hatte das kleine silberfarbene Wollknäuel so genannt. Seither hießen alle Hunde bei uns Tarzan. Eine liebgewordene Tradition, da unsere Haustiere Namen hatten. Den Hahn nannten wir Jani, das Schwein Matzi, den Kater Fritzi, die Gans Wurri, die Kuh Flori – und den Hund eben Tarzan.
Irgendwann kam der Tag, wo es hieß, von alldem Abschied zu nehmen. Damals hatten wir zwei Tarzane – einen alten und einen jungen. Am Tag der Ausreise spürten wir, dass es ein Abschied für immer sein wird. Als ich mich in der Scheune niederkniete, kamen die Tarzane zu mir gelaufen. Ich drückte sie rechts und links an mich, nahm ihre Schnauzen unter meine Achselhöhlen und streichelte sie zärtlich. Es bedurfte keiner Worte. Alle fühlten, dass es bald mit dem trauten Zusammensein endgültig vorbei sein wird. Als ich zwei Jahre später erstmals auf Besuch nach Großjetscha kam, lebte der alte Tarzan nicht mehr und für den jungen war ich ein Fremder geworden. Wütend bellte er mich an der Kette an.
Auch für den echten Tarzan kam eines Tages der Abschied für immer. Verarmt und krank verließ er mit 79 Jahren die Welt in Acapulco im fernen Mexiko. Auf seinem Grabstein im bekannten Badeort stehen zwei Wörter und zwei Zahlen: „Johnny Weissmüller, 1904 – 1984“. Das reicht vollkommen. Ohnehin kennt ihn die ganze Welt.
Während einer unserer Fernreisen waren wir 1999 in einem anderen mexikanischen Ferienparadies: Cancún an der Ostküste der Halbinsel Yucatán mit ihren vielen Mayatempeln. Hier flogen meine Gedanken knapp 2000 Kilometer quer über ganz Mexiko nach Acapulco an die Westküste. Wenn wir schon nicht dort waren, dann wenigstens im Land, in dem Johnny Weissmüller den Gang in die Ewigkeit angetreten hat.
Auch wenn sein Urwaldschrei vielen immer noch im Ohr klingt, in die Geschichtsbücher schwamm er mit dem historischen Weltrekord an jenem 9. Juli 1922 in Kalifornien. Diese Bestmarke war das Fundament für seine glanzvolle Karriere als mehr-
facher Olympiasieger und bekanntester Tarzan-Darsteller.
1965 wurde Weissmüller als erster Preisträger überhaupt in die Ruhmeshalle des internationalen Schwimmsportes aufgenommen, die sich in Fort Lauderdale in Florida direkt am Atlantischen Ozean befindet. Und 1972 prägte man anlässlich der Olympiade in München Gedenkmedaillen an seine grandiosen sportlichen Erfolge. Große Ehren, die nicht vielen Sportlern zuteilgeworden sind!
Wie sagte der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison: „Genie ist ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration“. Unser Landsmann Johnny Weissmüller hat das eindrucksvoll bewiesen. Deshalb wird er ewig leben. Denn geniale Menschen sterben nie.
Kommen Sie gut durch die Zeit!