Diese Worte waren sinngemäß der Grundtenor der Reden unserer rumänischen Gastgeber und Ehrengäste an den beiden Bărăgan-Gedenk-tagen in Roseți (Bărăgan, Kreis Călăraşi) und Neupetsch. Als Vertreter der „Bărăgan-Erlebnisgeneration“ stellt man fest, dass die von diesen Worten anfänglich ausgelöste Verwunderung in ein Gefühl der Genugtuung umschlägt, ein Gefühl, welches sich jahrzehntelang nicht einstellen wollte oder durfte. Und dies nach sieben Jahrzehnten, in denen Kriegsleid, Deportation und Diskriminierung es geschafft haben, uns zur „Rücksiedlung“ zu zwingen.
Und nun, nach fast 40 Jahren Alltag in der „neuen“ Heimat, bot sich mir – in Begleitung meiner Frau Anna – die Gelegenheit, während einer zweiwöchigen „Bărăgan-Gedenkreise“ in unsere Vergangenheit einzutauchen und einen durch ein halbes Menschenleben in einer grundverschiedenen Welt gereiften Blick auf einen Teil dieser Vergangenheit zu werfen.
„Gedenkreise“ in den Bărăgan und ins Banat
Unserer Reise vorangegangen war bereits die Gedenkveranstaltung vom 17. Juni 2021 in Neupetsch, in deren Rahmen eine Gedenktafel am Bahnhofsgebäude enthüllt wurde und deren Krönung die Kranzniederlegung an unserem Kriegerdenkmal seitens der Gemeindebehörde Peciu Nou sowie des Bürgermeisters der Bărăgan-Gemeinde Roseți und der beiden orthodoxen Pfarrer aus Roseți und Modelu war. Coronabedingt konnte unsere Heimatortsgemeinschaft an dieser Veranstaltung leider nicht teilnehmen und wir wollten das Versäumte zu einem späteren Zeitpunkt in größerem Rahmen nachholen. Dazu kam es jedoch leider nicht, da auch eine angedachte Flug- und Bahnreise in den Bărăgan nicht zustande kam. So fassten meine Frau und ich letztendlich den Beschluss, unsere Camper-Urlaubsreise mit der Gedenkreise zu „70 Jahre seit der Bărăgan-Deportation“ zu verbinden.
Wir starteten am 18. August in Richtung Bük (Ungarn), um dann, nach ein paar erholsamen Tagen im Thermalbad, am 23. August Richtung Rumänien weiterzufahren. An einer Tankstelle in der Nähe von Arad trafen wir uns mit dem „Moderator“ der geplanten Veranstaltungen, Dorin Imbrescu, der uns die bestellten Kränze, einen riesigen „cozonac“ (traditionelles, süßes Hefegebäck) und eine Urne mit Serbisch-Sanktmartiner Heimaterde mit auf den Weg in den Bărăgan gab. Für uns ging es danach weiter nach Aurel Vlaicu, wo wir auf dem Campingplatz übernachteten und am nächsten Tag auf der wunderschönen Transalpina-Hochstraße die Karpaten überquerten. Vom höchsten Punkt dieser Straße, dem Gebirgspass Urdele (2145 Meter), durften wir einen Blick auf dieses wunderschöne und faszinierende Land werfen, welches in seiner Vergangenheit dennoch die menschenverachtenden Deportationen unserer Landsleute nach Russland und in den Bărăgan zugelassen hatte.
Gedenkgottesdienst in Roseți
Nach nochmaligem Übernachten auf einem Campingplatz bei Râmnicu Vâlcea wurden wir in einem Hotel in Călăraşi sesshaft und bereiteten uns für den „großen“ Tag, den 26. August, vor. Călăraşi liegt am Borcea genannten Arm der Donau (ca. 13 Kilometer von Roseți entfernt) und gehörte für unsere deportierten Landsleute gerade noch zur berüchtigten 15-Kilometer-Zone, in der sie sich bewegen durften.
Frühmorgens wurden wir aus Călăraşi abgeholt, um dem für 7.30 Uhr angesetzten Gedenkgottesdienst in der orthodoxen Kirche „Biserica din Deal“ in Roseți beizuwohnen und ihn mitzugestalten. Hier fand sich auch der Neupetscher Bürgermeister Gabriel Drăgan ein, der mit seiner Lebenspartnerin bereits einige Tage vorher angereist war. Nach herzlichem Empfang durch den Hausherrn, Pfarrer Georgian Şerban, und durch seinen Kollegen aus dem benachbarten Modelu, Pfarrer Constantin Cristinel Borcan, durften wir einem ergreifenden Gottesdienst beiwohnen, in dessen Rahmen ehrerbietend dem Leid der Bărăgan-Verschleppten gedacht wurde – sowohl unserer deutschen Landsleute wie auch der verschleppten Serben aus unserem Nachbardorf Serbisch-Sanktmartin. Pfarrer Şerban hielt nach der Segnung des „cozonac“ eine beeindruckende, hervorragend vorbereitete Predigt, für die ich mich im Namen unserer Landsleute in meiner anschließenden Ansprache aufs Herzlichste bedankte. „Wer seine Vergangenheit nicht kennt, ist der Zukunft nicht wert“ formulierte er drastisch und meinte hinsichtlich der Deportierten: „Ihre einzige Schuld waren Fleiß und Anstand“. Auch der Neupetscher Bürgermeister Gabriel Drăgan betonte in seiner Ansprache die Willkür der Verschleppung und unsere heilige Pflicht, solchen Verirrungen der Politik entschlossen entgegenzuwirken. Pfarrer Șerban wurde beim Zelebrieren des Gedenkgottesdienstes von Pfarrer Borcan assistiert.
Museumsbesuch und Requiem in Călăraşi
Nach dem Gottesdienst fuhren wir zurück nach Călăraşi, wo uns im „Museum der Unteren Donau“ die Geschichte des Bărăgans und der Stadt Călăraşi erläutert wurde. Der Direktor des Hauses Valentin Parnic hatte uns bereits im Juni wertvolles Bildmaterial zur Deportation zur Verfügung gestellt.
Mit einiger Verspätung trafen wir um 10.30 Uhr in der römisch-katholischen Kirche von Călăraşi ein, wo Pfarrer Dominic Soare ein Requiem für die Opfer der Bărăgan-Deportation aus den Reihen der Banater Schwaben hielt. In dankbarer Ergriffenheit nahm ich die Gelegenheit wahr, im Rahmen des Requiems die Namen der im Bărăgan verstorbenen Ulmbacher Landsleute (32) vorzulesen, darunter auch den meines Vaters und meiner Urgroßmutter.
Nach der Verabschiedung von Pfarrer Soare brachte uns unser Fahrer wieder nach Roseți, wo uns Bürgermeister Nicolae Râjnoveanu in Empfang nahm. Der altgediente Bürgermeister verriet uns, dass er (Jahrgang 1950) noch Deportiertenkinder als Schulkollegen hatte, da 1956 bekanntlich nicht alle Verschleppten in ihre Heimatorte zurückkehren durften. Dass ich (Jahrgang 1951) die Zugehörigkeit zu seinem damaligen Bekanntenkreis nur knapp verfehlt hatte, konnte ich zu seiner Überraschung mit dem Geburtsort-Eintrag „Roseti“ in meinem deutschen Personalausweis belegen.
Kranzniederlegung am Deportationsdenkmal
Nach einem Rundgang durch das Rathaus und freundlicher Bewirtung zeigte uns der Bürgermeister mit sichtlichem Stolz eine der drei Schulen der Gemeinde, deren Gestaltung und Ausstattung höchste Anerkennung verdienen. Der Kontrast zur Zeit der Verschleppung könnte nicht größer sein.
Gegen Mittag begaben wir uns zu den beiden Denkmälern im Park der Gemeinde. Neben dem klassischen Heldendenkmal wurde nach der Wende ein Denkmal für die Opfer der Bărăgan-Deportation errichtet, speziell für die Zwangsbewohner des damals vier Kilometer neben Roseți buchstäblich aus der Erde gestampften „Olaru“ (anfänglich „Roseții Noi“). In feierlichem Rahmen – Pfarrerstochter und Freundin waren sogar in ihrer wunderschönen Tracht angetreten – erfolgte jetzt die Kranzniederlegung durch Bürgermeister Drăgan im Namen der Gemeinde Peciu Nou und durch mich im Namen der Heimatortsgemeinschaft Ulmbach-Neupetsch. Ebenfalls im Namen unserer Heimatortsgemeinschaft legte ich einen Kranz am Heldendenkmal der Gemeinde Roseți nieder. Nach der Kranzniederlegung lud die Pfarrersfamilie Şerban zum Mittagessen ein und empfing uns wie alte Bekannte, mit einer Gastfreundschaft, die einen die Erzwungenheit des Geburtsortes vergessen ließ.
Von Olaru und Lăteşti nichts mehr zu sehen
Danach lud uns der Bürgermeister zu einer Rundfahrt mit dem Schulbus ein. Das erste Ziel war das von den Deportierten aufgebaute „Olaru“, dessen ehemaligen Standort wir nach einer durchrüttelnden Querfeldeinfahrt erreichten. Von Häusern keine Spur – lediglich ein paar Grabsteine sind durch die Pietät der Treckerfahrer vor den mächtigen Pflugscharen verschont geblieben. Im Namen der Gemeinde Peciu Nou wurde hier ebenfalls ein Kranz sowie die Urne mit Serbisch-Sanktmartiner Heimaterde abgelegt. Den Friedhof in Olaru gründete man erst 1954, da bis dahin die Toten der Deportierten auf dem Friedhof in Roseți, dem „alten“ Dorf, beigesetzt wurden.
Im Anschluss besuchten wir das wunderschöne Kloster Coslogeni und das wiederaufgebaute Kloster in Libertatea – ein Nachbarort von Olaru, der den meisten unserer Landsleute noch geläufig sein dürfte. Den Abend dieses unvergesslichen Tages verbrachten wir bei einem Abendessen in Călăraşi mit unseren Gastgebern sowie dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten des Kreises Călăraşi.
Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns bei einer Tasse Kaffee von Bürgermeister Nicolae Râjnoveanu, besuchten anschließend noch den Friedhof in Roseți, wo die Gräber meines Vaters und meiner Urgroßmutter wie auch die der anderen Landsleute leider nicht mehr auffindbar waren. Der Friedhof liegt neben der Borcea, und der Teil des Friedhofs mit den Gräbern unserer Landsleute wurde einige Jahre nach deren Heimkehr noch von einem orthodoxen Pfarrer gepflegt, im Laufe der Zeit jedoch von Gestrüpp überwuchert.
Schließlich setzten wir unsere Reise mit einem Besuch in Borduşani, bei Feteşti, fort, wo im benachbarten Lăteşti die zweite Gruppe der Ulmbacher zwangsangesiedelt war. Auch hier ist von der Siedlung nichts mehr zu sehen. Lediglich die Ruinen der Staatsfarm, in der auch viele Ulmbacher gearbeitet hatten, ragen noch mahnend in den Himmel.
Auf dem „Heimweg“ nach Neupetsch
Wir machten uns sodann auf den „Heimweg“ nach Neupetsch, mit zwei von Dorin Imbrescu empfohlenen Zwischenstopps: In Eftimie Murgu, wo wir bei einer Führung zu den sehenswerten historischen Wassermühlen Professor Mihai Vlădia kennenlernten – den wir erfreulicherweise auch ein paar Tage später in Neupetsch begrüßen durften – und in Steierdorf-Anina, ehemalige Hochburg des Steinkohlebergbaus und aufstrebende Tourismusregion. Hier durften wir „königlich“ in der Villa Ferdinand übernachten und wurden im Rathaus von Daniel Vlad (Deutsches Forum Anina) und Fabian Ene (Büroleiter Europäische Angelegenheiten) empfangen.
Am 31. August trafen wir schließlich in Neupetsch ein und wurden durch die Vermittlung von Bürgermeister Drăgan im Hause Horga untergebracht und von Vasilica Becker umsorgt, wofür wir uns nochmals herzlichst bedanken wollen.
Der 1. September war ein „Tag der Arbeit“, an dem wir uns mit Mathias Anheuer (Roßtal) und dem Mesner Petrică Sârbulov der Montage der aus Deutschland mitgebrachten Gedenktafel an der Wand der Friedhofskapelle widmeten. In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei allen an der Herstellung der Tafel Beteiligten herzlich bedanken: bei Mathias Anheuer für die Programmierung, Vorbereitung und Montage und Helga Ott, geborene Stuhl, die ihn unterstützt hat; bei Helmuth Klug, in dessen Göppinger „Klug Laser GmbH“ die Tafel gefertigt wurde, und der auch das Material zur Verfügung gestellt hat; bei Berti Batki, der die Tafel gefertigt hat; bei Friede Beck für die Unterstützung bei der Vorbereitung unserer Projekte.
Der eigentliche Festtag war der 2. September, welcher mit dem absichtlich hinausgezögerten, traditionellen Abbau des Maibaums vor dem Rathaus begann. Im Beisein von Vizebürgermeisterin Nicoleta Grubacichi bedankte sich Bürgermeister Gabriel Răzvan Drăgan für die Ehre, welche ihm durch diese neu belebte Ulmbacher Tradition jährlich durch unsere Heimatortsgemeinschaft zuteil wird.
Gedenktafel in Ulmbach enthüllt
Um 14 Uhr fand auf dem Ulmbacher katholischen Friedhof die Hauptveranstaltung des Tages statt: die Enthüllung und Segnung der den beiden Deportationen gewidmeten Gedenktafel an der Wand der Friedhofskapelle. Der Pfarrer der katholischen Pfarrei Tschakowa Dorin Gyula Filip segnete die Tafel und würdigte zweisprachig in Predigt und Gebet das Schicksal der Verschleppten. Vor den zum Teil auch aus Deutschland angereisten Gästen hielten anschließend Bürgermeister Drăgan, Vizebürgermeisterin Grubacichi, Professor Vlădia und auch ich als HOG-Vorsitzender ergreifende Reden.
„Bisher war unser Kriegerdenkmal die Stätte des Gedenkens an die Gefallenen der beiden Weltkriege und an die Opfer der beiden unmenschlichen Deportationen. Nach 70 Jahren dürfen wir nun heute der feierlichen Enthüllung dieser Gedankentafel beiwohnen, die ausschließlich den in den Bărăgan und in die Sowjetunion verschleppten Landsleuten gewidmet ist“, hieß es in meiner Rede.
Im Rahmen der Gedenkveranstaltungen besuchten die Teilnehmer auch die katholische Kirche, wo Pfarrer Filip für die Opfer der beiden Deportationen betete und Bürgermeister Drăgan während seiner Ansprache eine Schweigeminute einlegte. Nach einer kurzen Ansprache meinerseits fanden Gespräche hinsichtlich der dringend notwendigen Renovierung der Kirche statt.
Im Kulturheim des Ortes luden die Organisatoren zu einer Gesprächsrunde zum Thema Deportation ein, an der sich auch Willi Dekorsi und Sepp Schäfer seitens der wenigen noch in Neupetsch lebenden Deutschen beteiligten. Professor Vlădia stellte bei dieser Gelegenheit sein neuestes Buch „Sovietizarea României 1945-1948“ („Die Sowjetisierung Rumäniens 1945-1948“) vor.
Am späten Nachmittag wurde schließlich noch im Studio des Temeswarer Senders SudVest TV ein ca. 40-minütiges Gespräch zwischen dem Historiker Mihai Vlădia und mir zur Bărăgan- und Russland-Deportation aufgezeichnet. Es steht (in rumänischer Sprache) auf der Internetseite der HOG Ulmbach-Neupetsch (www.ulmbach.de) unter dem Link zu unserem YouTube-Kanal zur Verfügung.
Abschließend möchten wir uns bei all unseren Gastgebern für die freundliche Aufnahme bedanken und nicht zuletzt für die von großem Verständnis und Empathie geprägte, aufrichtige Anteilnahme an einem der traurigsten Kapitel unserer Geschichte. In allen Gedenkreden kam man zum Schluss, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Wie zerbrechlich dieses „nie wieder“ jedoch sein kann, wird gerade in der Donbass-Region ersichtlich, welche sich bereits mit der Russland-Deportation unserer Eltern und Großeltern vor mehr als 70 Jahren als dunkler Fleck in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hat – und dennoch…