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Verfolgt, gefangen, verschleppt und überlebt

Eva und Anton Müller mit Sohn Albert. Das Familienfoto entstand anlässlich des Fronturlaubs meines Vaters zu Ostern 1944. Einsender der Fotos: Albert Müller

Eine Gruppe deportierter Frauen aus Traunau im Jahr 1947 (von links): Emma Schankula, Katharina Weirich, Elisabeth Titzler, Theresia Maier und meine Mutter Eva Müller

Eva Müller mit Sohn Albert im Jahr 1948, nach ihrer Heimkehr aus der Deportation

Vor genau einem Jahr veröffentlichte ich in dieser Zeitung meine Erinnerungen an die Heimkehr meiner Mutter aus der Russlanddeportation unter dem Titel „Groß bischt waar, mei Bu!“. Die in dem von der Landsmannschaft herausgegebenen Buch „Die Verschleppung der Deutschen aus dem Banat in die Sowjetunion aus Sicht ihrer Kinder“ erschienenen Erzählberichte machten mir bewusst, dass ich das Pferd von hinten aufgezäumt und mit dem Ende, der Heimkehr meiner Mutter, begonnen hatte. Nun will ich aber mit dem Anfang beginnen und meine Erinnerungen zu diesem Thema wie auch jene meiner Mutter schildern, die nach ihrer Heimkehr oft über die Deportationsjahre erzählte.

Januar 1945: Bilder, die sich eingeprägt haben

Es war mir bereits als Kind bewusst, dass meine Mutter zwangsweise von Zuhause abgeholt und in der Dorfschule eingesperrt worden war. Zwei Bilder haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt: Das eine zeigt, wie im Januar 1945 zwei uniformierten Soldaten mit aufgepflanztem Gewehr meine Mutter zur Sammelstelle bringen und ich mit meiner Großmutter in einigem Abstand hinterherlaufe. Das andere, als meine Großmutter mich am Fenster der Schule hochhebt, meine Mutter mich in die Arme nimmt und unter Tränen an sich drückt. Es war ein rührender Abschied, bei dem auch ich weinen musste, vielleicht auch deshalb, weil alle weinten, denn auch andere Kinder waren von ihren Großeltern zu diesem Fenster gebracht worden. Ein weiteres durfte nicht geöffnet werden. Die ganze Tragweite des damaligen Geschehens konnten wir Kinder noch nicht erfassen. Ich war damals vier Jahre und vier Monate alt. Nach der kommunistischen Machtübernahme folgten Enteignung und Entrechtung der deutschen Bevölkerung im Banat.

Mein Vater geriet vor Kriegsende in französische Gefangenschaft, wo er zwei Jahre lang unter menschenunwürdigen Verhältnissen schmachten musste.  Meine Großeltern sorgten dafür, dass in den dreieinhalb Jahren der Verschleppung meiner Mutter fast kein Tag verging, ohne dass über meine Eltern gesprochen wurde. Abends, beim Gebetläuten, wurde ich immer ermahnt, für meine Eltern zu beten. 

Jeden Sonntag ging mein Großvater in die Kirche zur Frühmesse. In dieser Zeit stellte meine Großmutter das Mittagessen auf den Herd und als mein Großvater wieder von der Kirche zuhause war, überwachte er den Kochvorgang. Meine Großmutter und ich gingen dann ins Hochamt. Als Dorfköchin, die bei größeren Familienfesten das Kuchenbacken und die Zubereitung des Festessens übernahm, verstand sie es, in dieser armen Zeit von den wenigen vorhandenen Lebensmitteln ein schmackhaftes Essen auf den Tisch zu bringen. Dem Herrgott und meinen Großeltern sei nach mehr als 75 Jahren gedankt, dass ich damals in den Genuss guter Speisen kam.

Der Krieg trennte die Familie: Vater blieb im Westen
Das erste Lebenszeichen kam 1946 von meinem Vater. Es war nur eine Karte mit paar Worten, aber so wussten wir wenigstens, dass er noch lebt. Er war Steinmetz von Beruf und das Zeichnen war Teil seines Handwerks. In der Gefangenschaft konnte er sich vom Wachpersonal Bleistift und Papier besorgen und zeichnete für es zuerst Blumenbilder, dann auch von den mitgebrachten Familienfotos deren Frauen und Kinder. Das brachte ihm ein zusätzliches Stück Brot oder auch mal eine Tafel Schokolade ein, die von den amerikanischen Soldaten stammte. Diese Süßigkeiten sammelte er und schickte sie mir in kleinen Päckchen zu, worüber ich mich immer sehr freute. Aus der Gefangenschaft wurde er 1947 nach Kupferzell entlassen, wo er bei einem reichen Bauern Arbeit in der Landwirtschaft fand. Mein Vater wurde also Knecht. Er bekam keinen Lohn, nur das Essen wurde gestellt. Die Verpflegung war jedoch schlecht, nicht viel besser als in der Gefangenschaft. Zu jener Zeit wurde der „Eiserne Vorhang“ geschlossen und es gab kein Durchkommen mehr von Ost nach West oder umgekehrt. Die Familie war und blieb getrennt. 
Im Ort gab es einen Bildhauerbetrieb, bei dem mein Vater nach Arbeit fragte und auch zu einem angemessenen Lohn eingestellt wurde. Der Betrieb hatte mehr als genug Aufträge, denn die Kriegsschäden an den historischen Bauten mussten behoben werden. Hier erlernte er auch die Bildhauerei und arbeitete bis 1952 als Bildhauer für private Auftraggeber wie auch für das Landesdenkmalamt.  Im gleichen Jahr machte er sich in Neckargartach, einem Stadtteil von Heilbronn, als Steinmetz selbstständig und stellte Grabsteine her.

Erstes Lebenszeichen von der Mutter 

Ich glaube, es war Ende 1946, als auch von meiner Mutter eine Karte mit ein paar Worte bei uns im Banat ankam. Es war nur eine kurze Mitteilung, die auch ins Russische mit kyrillischen Buchstaben übersetzt war. Die Retouradresse war in russischer Sprache geschrieben. Die Adresse auf den Karten, die wir an meine Mutter schickten, musste ebenfalls in kyrillischen Buchstaben geschrieben sein. Im Dorf lebten Männer, die während des Ersten Weltkrieg in russischer Gefangenschaft waren und die russische Sprache leidlich in Wort und Schrift beherrschten. Diese schrieben für meine Großeltern die Adressen auf die nach Russland verschickten Karten. 

Es war in der Adventszeit 1947, als meine Großmutter und ich mit dem Pferdewagen eines rumänischen Kolonisten in die 15 Kilometer entfernte Stadt Arad fuhren, um mir einen Wintermantel zu kaufen. Kurz nach Weihnachten wurde der Dorffotograf zu uns bestellt und es wurde ein Foto von mir mit dem neuen Mantel und dem geschmückten Christbaum daneben gemacht. Damals war ich in der ersten Klasse und konnte noch nicht schreiben. Wir lernten erst die Buchstaben. Als wir das Foto in drei Abzügen erhielten, sagte mein Großvater zu mir: „Komm, jetzt schreiben wir deinen Eltern.“ Er führte mir die Hand. Das Bild gibt es heute noch und auf der Rückseite kann man lesen: „Hier komme ich zu dir, lieber Vater / liebe Mutter. Dies ist der Mantel mit den goldenen (bronzierten) Knöpfen, den ihr mir kaufen wolltet, wenn ich zur Schule gehe.“ Meine Großeltern waren stolz auf mich.

Schwere Arbeit bei Mangelernährung

In den Briefen meiner Mutter konnte man zwischen den Zeilen herauslesen, dass die Verschleppten schwer arbeiten mussten und die Ernährung sehr mangelhaft war. Am allermeisten plagte meine Mutter wie auch alle anderen Mütter die Sehnsucht nach ihren Familien und ganz besonders nach ihren Kindern. 

Erste Station war ein Arbeitslager in der Ortschaft Kubandik im Uralgebirge. Die Unterbringung in primitiven Holzbaracken auf eng beisammenstehenden Stockbetten mit etwas Stroh darauf war eine weitere schwere Belastung für die Deportierten. Das Bett war der einzige Bereich, den sie für sich hatten. Unter den Betten wurden die Koffer, nachdem sie von den Bewachern halb ausgeraubt worden waren, mit den wenigen Kleidern und Habseligkeiten aneinandergereiht. Bei diesen Lebensbedingungen war es nur eine Frage der Zeit, bis sich Läuse und Wanzen ausbreiteten. Es war eine Plage für die geschundenen Menschen, auch dies noch ertragen zu müssen. Es gab eine Baracke mit Waschgelegenheit, die aber nur auf Kommando betreten werden durfte. Nach rund fünf Wochen gab es zum ersten Mal eine warme „Sauerkrautbrühe“ und 200 Gramm Schwarzbrot als Tagesration. Die Lebensmittel, die die Verschleppten von Zuhause mit auf die lange und ungewisse Reise mitgenommen hatten, waren so langsam aufgebraucht und es stellte sich zum ersten Mal Hunger ein, der ab diesem Zeitpunkt zum ständigen Begleiter wurde. Die Kälte von minus 10 bis 20 Grad gesellte sich noch zu dem kalorienarmen Essen und der schweren Arbeit im Steinbruch, beim Entladen von Waggons oder im Sägewerk. Dabei waren Arbeitsnormen zu erfüllen, die nur schwer zu erreichen waren. Wurde die Tagesnorm nicht erfüllt, so wurde die Essensration gekürzt. Viele haben infolge der schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen die Deportationszeit nicht überlebt. Von den 121 aus Traunau deportierten Frauen und Männer sind elf verstorben. 

Zweite Station war dann das Arbeitslager 1902 im Kupferminen-Gebiet „Rechitianga“, wo die Deportierten unter Tage das Erz im Halbdunkeln mit der Schöpfschaufel auf Waggons zu verladen hatten. Nach diesen arbeitsintensiven langen Arbeitstagen wurden sie auch noch nachts aus den Betten getrieben, um Waggons auszuladen oder die Bahngleise vom hohen Schnee bei eisiger Kälte und starkem Wind freizuschaufeln.

Zeichen von Menschlichkeit im trostlosen Alltag

Meine Mutter erzählte nicht nur von den Beschwernissen des Alltags, sondern auch von einer Begebenheit, die ihr das Leben rettete. Ein Ausspruch von ihr lautete: „Hunger tut weh!“ Abgemagert, aber mit ungebrochenem Lebenswillen, tat sie alles, um zu überleben. Dazu gehörten auch das Betteln bei der einheimischen Bevölkerung oder das Eintauschen des Wenigen, das sie von der Arbeit mitnehmen konnte, für ein Stück Brot. 

Sie erzählte gerne von ihrem Erlebnis: Eines Tages gelang es ihr, von der Arbeitsstelle drei oder vier Stück Holz, unter ihrer Wattekleidung versteckt, mitgehen zu lassen. Auf dem Heimweg klopfte sie an der Haustür von Einheimischen. Sie wurde eingelassen und bot den Leuten das Holz für ein Stück Brot an. Da sprang der Herr des Hauses auf und fragte mit lauter Stimme in deutscher Sprache: „Was wollen Sie?“ Meine Mutter wollte davonlaufen, aber der Mann sagte zu ihr: „Kommen Sie rein, ich will Ihnen helfen.“ Er erzählte ihr, dass er in Deutschland im Gefangenenlager gewesen sei und auf Baustellen gearbeitet habe, dass auch ihm auf dem Weg gute Menschen ein Stück Brot oder sonst etwas verdeckt zum Essen gereicht hätten. Seine Frau brachte meiner Mutter einen Teller und sie bekam von dem gekochten Essen vom Herd. Der Herr verabschiedete sie mit den Worten: „Wenn Sie Gelegenheit haben, klopfen Sie bei uns an.“ Meine Mutter machte von dem Angebot oft Gebrauch. Sie brachte den Leuten das Holz, das sie unter den Kleidern verstecken konnte, dafür bekam sie immer etwas zu essen. Diese Menschen hat sie in ihr Herz geschlossen und nannte sie voller Dankbarkeit „Meine Babuschkas“. 

Einen Sommer und Herbst lang hatte sie ihren Arbeitseinsatz in einer Gärtnerei. In dieser Zeit musste sie nicht hungern, denn es gab immer etwas, was man essen konnte. Einmal ist es vorgekommen, dass sie von einem Wachposten kontrolliert wurde, der das versteckte Holz bei ihr fand. Sie musste dafür für zwei Nächte in den Karzer bei Wasser und halber Brotration. Eine Nachbarin reichte ihr durch den undichten Holzverschlag Suppe, ein Stückchen Brot und eine Decke zum Einwickeln, um nicht zu frieren. Es kam auch vor, dass der Hunger den Menschen so peinigte, dass er zu allem fähig war. Manche konnten nicht widerstehen, aßen ihre Tages-Brotration auf einmal auf und mussten den Rest des Tages hungern. Vereinzelt wurde sogar das überlebenswichtige Brot von Leidensgenossen gestohlen. Obwohl das Brot wie ein „Wetzstein“ aussah, war es in dieser entbehrungsreichen Zeit das einzige Lebensmittel, das meine Mutter wie auch die anderen Verschleppten am Leben erhalten hat. Im Juni 1948 kam sie nach dreieinhalb Jahren Zwangsarbeit in Russland wieder in ihre Banater Heimat, nach Traunau, zurück.

Nach der Heimkehr: keinen Brotkrümel weggeworfen

Meine Mutter hat während der Russlanddeportation ein Gelöbnis abgelegt: Wenn zu Hause der erste selbstgebackene Laib Brot aus dem Backofen kommt, werde sie ihn küssen, ein Stück warme Kruste abschneiden und gleich verzehren. Ebenso gelobte sie, keinen Krümel Brot in ihrem weiteren Leben wegzuwerfen. Dieses Gelöbnis hielt sie bis zu ihrem Tod mit 91 Jahren. Auch ihren Enkeln und Urenkeln hat sie ihre Einstellung zum Brot weitervermittelt.

Nun sind 77 Jahre seit jener verhängnisvollen Zeit vergangen und die Geschehnisse von damals verblassen immer mehr. Auch die Kinder der ehemaligen Russlandverschleppten sind in die Jahre gekommen und werden immer weniger. Ich würde allen Betroffenen empfehlen, ihre Geschichte zu diesem Thema aufzuschreiben, solange sie es noch können, und mich freuen, weitere Berichte über die Russlanddeportation und deren Folgen für die Familien in unserer Heimatzeitung zu lesen.