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Zwei legendäre Stimmen und das Wunder von Bern. Zimmermanns 55. Todestag, Szepesis 100. Geburtstag (Teil 1)

Die Sportkommentatoren Herbert Zimmermann (oben) und György Szepesi (unten) Fotos: Historisches WDR-Archiv, www.puskas.com

Eintrittskarte fürs WM-Finale 1954 in Bern

„Tooooor!!! Tooor!! Tooor! Toor für Deutschland! Die Schreie des Rundfunkreporters Herbert Zimmermann im Berner Wankdorf-Stadion, die Schreie nach Helmut Rahns Schuss zum 3:2 gegen die Ungarn haben den 4. Juli 1954 zu einem unvergesslichen Tag der deutschen Nachkriegsgeschichte gemacht – zum wahren Gründungsdatum der Bundesrepublik, wichtiger als die Währungsreform, die Verabschiedung des Grundgesetzes oder das Einreißen der Berliner Mauer.“ (Chefredakteur Hans Werner Kilz am 3. Juli 2004 in einem Leitartikel der „Süddeutschen Zeitung“)

Ein Jahr Sportkolumne – wie schnell doch die Zeit vergeht! Dem einjährigen Geburtstag der Rubrik wie auch der historischen Bedeutung des deutschen WM-Sieges 1954 entsprechend veröffentlichen wir einen längeren Beitrag als sonst. Und würdigen in der Kolumne am 20. Februar mit Jupp Posipal anlässlich seines 25. Todestages einen aus Lugosch stammenden Banater Schwaben, der als Spieler zu diesem WM-Gewinn beigetragen hat.

Als Folge des Zweiten Weltkriegs wurde Deutschland aus dem Fußball-Weltverband FIFA ausgeschlossen. Ein deutscher Staat existierte nicht mehr. Als es ihn ab 1949 wieder gab, waren es die Schweizer, die dem großen Nachbarn zum wiederholten Male die Hand reichten. Am 22. November 1950, zwei Monate nach der Rückkehr Deutschlands in die FIFA, fand das erste deutsche Länderspiel nach dem Krieg zwischen der Bundesrepublik und der Schweiz statt. Aus allen Teilen Westdeutschlands strömten die Menschen ins Stuttgarter Neckarstadion. Es fasste 80000 Zuschauer, gekommen waren über 100000. Aus Sicherheitsgründen wollte der Schiedsrichter zunächst nicht anpfeifen, tat es aber doch. Im deutschen Radio wurde das Spiel von einem gewissen Herbert Zimmermann kommentiert. Seine Leidenschaft für Sportübertragungen wurde schon früh geweckt. Mit elf Jahren hatte er die Rundfunkberichte von den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam begeistert gehört. Dabei entstand sein Wunsch, Reporter zu werden. Deshalb machte er einige Zeitungsvolontariate. Dann kam der Krieg dazwischen.

Das eingangs erwähnte Länderspiel gewann Deutschland mit 1:0. An der Weltmeisterschaft fünf Monate vorher in Brasilien durfte die deutsche Nationalmannschaft noch nicht teilnehmen, erst vier Jahre später, als vom 16. Juni bis zum 4. Juli 1954 in der Schweiz das WM-Endturnier mit 16 Teilnehmern anstand. Dafür hatten sich die Deutschen gegen Norwegen und das von Helmut Schön trainierte, damals autonome, Saarland qualifiziert.

Ungewöhnlich groß war für jene Zeit das Medieninteresse. 1054 Journalisten und 129 Fotografen aus mehr als 100 Ländern hatten sich für die WM in der Schweiz akkreditiert, vorwiegend Zeitungsschreiber und Radioreporter. Das Fernsehen steckte noch in den Kinderschuhen. Technisch am fortgeschrittensten war Deutschland, wo bereits 1935 das erste regelmäßige Fernsehprogramm live ausgestrahlt wurde. Zwanzig Jahre später kam Österreich hinzu, 1956 Rumänien, 1957 Ungarn und 1958 Jugoslawien.

Während der WM 1954 wurden die meisten Menschen über das Radio erreicht. Die ARD hatte ein Reporter-Quartett in die Schweiz geschickt: Kurt Brumme (NWDR Köln), Gerd Krämer (SDR), Rudi Michel (SWF) und Herbert Zimmermann (NWDR Hamburg). Sie quartierten sich im Hotel Waldheim in Risch am Zuger See ein und fuhren mit eigenen Pkws in die Stadien. Was das Kommentieren der deutschen Spiele betraf, wurde die Reihenfolge der Reporter von Teamchef Robert Lembke ausgelost. Ein halbes Jahr später startete seine Sendung „Was bin ich?“. Sie sollte jahrzehntelang im Ersten Deutschen Fernsehen laufen und ihn überaus beliebt und berühmt machen.

Teure Fernsehgeräte

Lange Zeit später habe ich Gerd Krämer persönlich kennengelernt – in Degerloch bei den Heimspielen der Stuttgarter Kickers, die ich jahrelang für BILD von der 1. Bundesliga bis hinab in die Regionalliga begleitet habe. Krämer begann seine Karriere bei Radio Stuttgart. 1945 hatte er die erste Liveübertragung eines Fußballspieles zwischen dem VfB Stuttgart und Fürth kommentiert. Ab 1963 arbeitete er fürs ZDF und war einer der ersten Moderatoren der späteren Kultsendung „Aktuelles Sportstudio“. Krämer hat gerne über die Zeiten von früher geplaudert. Besonders übers Viertelfinale zwischen Deutschland und Jugoslawien bei der WM 1954, das er im Radio übertrug. Wegen der wahnwitzigen Spannung schien er kurz vor dem Kollaps zu stehen. Gleich zu Beginn führte Deutschland durch ein Eigentor, konnte aber erst kurz vor dem Abpfiff das erlösende 2:0 machen. Ich habe gerne mit dem Kollegen Krämer fachsimpelt, dabei so manches von ihm erfahren und gelernt.
Fürs deutsche Fernsehen kommentierte Dr. Bernhard Ernst vom NWDR Köln. In der BRD wurden acht Spiele, davon drei mit deutscher Beteiligung (ein Gruppenspiel, Halbfinale und Endspiel) gesendet. Es war die erste Weltmeisterschaft mit Live-Übertragungen im TV.

Die Gerätehersteller hießen Telefunken, Saba und Mende. Ein Apparat kostete 1200 D-Mark, was fünf Gehältern entsprach. Trotzdem stiegen die angemeldeten Fernsehgeräte in Deutschland von 27592 auf 40980, was einer Steigerung von knapp 50 Prozent entsprach und an der Weltmeisterschaft lag. Zum Halbfinale waren alle Apparate ausverkauft. Die meisten Leute konnten sich in der kargen Nachkriegszeit keinen teuren Fernseher leisten und schauten in überfüllten Gaststätten oder vor Schaufenstern zu. Radioapparate gab es wesentlich mehr. 1954 waren elf Millionen Rundfunkteilnehmer registriert. In Baden-Württemberg hatten 72 Prozent aller Haushalte bereits ein Empfangsgerät.

Aus Ungarn meldete sich der Radioreporter György Szepesi fürs WM-Endturnier an. Er wurde am 5. Februar 1922 als Jude in Budapest geboren und hieß ursprünglich Friedländer. Am kommenden 5. Februar ist der 100. Jahrestag seines Geburtstages. Ab seinem 23. Lebensjahr war er Reporter beim ungarischen Radio, kommentierte 1945 sein erstes Fußballspiel, als Ungarn auf Österreich traf. Der unverkennbare Stil, das ausgeprägte Gefühl für Spannung und Dramatik sowie die Fähigkeit, das Geschehen plastisch und leidenschaftlich zu schildern, machten ihn zum beliebtesten Sportreporter Ungarns. Szepesi ist ein gestandener Kommentator, als er am 4. Juli 1954 beim Finale zwischen Deutschland und Ungarn in der Radiokabine auf der Pressetribüne des Berner Wankdorfstadions hinter dem Mikrofon Platz nimmt.

Nur wenige Meter von Szepesi entfernt sitzt an diesem verregneten Sonntagnachmittag der knapp fünf Jahre ältere deutsche Reporter Herbert Zimmermann in seiner Kabine, ebenfalls ein routinierter Kommentator. Er kam am 9. November 1917 in Alsdorf im Rheinland zur Welt, machte in Freiburg das Abitur. Nach einer Verwundung im Krieg, an dem er als Offizier und Panzerkommandant im Westfeldzug und in den Kämpfen gegen die Sowjetunion teilnahm, bewarb er sich 1942 beim Rundfunk in Berlin, kam später zum NWDR Hamburg. 1948 berichtete er von den Olympiaden in St. Moritz und London. Er ist vielseitig begabt, kommentiert neben Wintersport und Leichtathletik noch Boxen, Tennis und Großfeldhandball. Der Auslosung der Reporterreihenfolge verdankt Zimmermann, dass er das WM-Finale kommentieren darf. Er ahnt nicht, dass es der absolute Höhepunkt seiner mehr als zwanzigjährigen Rundfunkkarriere werden sollte.

Duell oben und unten

Szepesi und Zimmermann sind sich nicht fremd. Zwei Wochen vorher haben sich ihre Wege schon mal gekreuzt. Sie kommentierten das Gruppenspiel zwischen Deutschland und Ungarn in Basel, das die Magyaren haushoch mit 8:3 gewannen. Kein Wunder, denn die „Aranycsapat“, dass „Goldene Team“ der Ungarn, blieb vier Jahre und einen Monat in 31 Pflichtspielen hintereinander bis zum Finale unbesiegt und fügte dem Mutterland des Fußballs England 1953 im Jahrhundertspiel die erste Heimniederlage überhaupt zu. Was soll da gegen die kurz zuvor schon mal abgeschossenen Deutschen eigentlich noch schiefgehen?

Klar, dass Szepesi in freudiger Erwartung dem Anpfiff des englischen Schiedsrichters William Ling entgegenfiebert. Zimmermann ist zurückhaltender und vorsichtiger. Trotzdem haben die Reporter etwas gemeinsam: Für beide ist die Sprache eine sinnliche Angelegenheit, sind besonders emotionale Worte sehr wichtig.

Deutschland gegen Ungarn unten auf dem Platz ist genauso ein Duell wie jenes oben in den Kabinen zwischen Szepesi und Zimmermann. Es ist gleichzeitig das Gefecht Ost gegen West, der Kampf der Systeme und der Weltanschauungen. Wobei der zurückliegende Krieg auch in Szepesis Leben eine wichtige Rolle gespielt hat. Sein Vater ist im Konzentrationslager Buchenwald umgekommen, er selbst musste in der Ukraine Zwangsarbeit leisten. Zumindest lässt er sich beim Finale nicht anmerken, ob das sein Verhältnis zu den Deutschen belastet.

Zimmermann steht seinem ungarischen Kollegen sprachlich in nichts nach. Er verbindet Pathos mit Fairness und erfindet einen einzigartigen Ton, der die Zuhörer elektrisiert und fesselt.

In Ungarn und der BRD sehen die Straßen an diesem Sonntag wie leergefegt aus. 50 Millionen Bundesdeutsche sitzen gebannt an den Radiogeräten. Eine Einschaltquote, von der heute nicht mal mehr geträumt werden kann. „Hier sind alle Sender der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, angeschlossen Radio Saarbrücken. Wir übertragen aus dem Wankdorf-Stadion in Bern das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn. Reporter ist Herbert Zimmermann“, erklingt Lembkes Stimme aus dem Äther.

Ungarischer Blitzstart

Um 16.55 Uhr pfeift Schiri Ling das Finale an. Der Straßenfeger ist das Abschiedsspiel des Briten. Trotz des Regens sitzen 62471 Zuschauer, darunter 30000 Deutsche, im rappelvollen Stadion. Aus Ungarn ist außer den Spielerfrauen und einigen Beamten der Staatssicherheit, die die Spieler beschatten, niemand mehr da. Zimmermann beginnt seinen Kommentar mit den Worten: „Deutschland im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft – das ist eine Riesensensation, das ist ein echtes Fußballwunder.“ Nach acht Minuten ahnt er, dass es für seine Landsleute ein blaues Wunder geben könnte. Durch einen Blitzstart liegen die Ungarn 2:0 vorne. „Und jetzt ruhig, Jungens, so wie wir beim 8:3 gespielt haben“, fordert Szepesi. Zimmermann sorgt sich: „Was wir befürchtet haben, ist eingetreten... der Blitzschlag der Ungarn.“ Trotzdem verbreitet er Zuversicht: „Es ist ein großer Tag für den deutschen Fußball, es ist ein stolzer Tag für den Fußball. Seien wir nicht so vermessen zu glauben, er müsse erfolgreich enden.“ So kurz nach dem verheerenden Krieg hütet er sich davor, militärisch zu klingen, seine Worte haben einen weichen rheinischen Einschlag. 

Passend dazu schrieb Philip Cassier in „Die Welt“: „Fotos zeigen einen Mann, dessen Gesicht und Körperbau nichts von dem Filigranen haben, das einen Feingeist vermuten ließe. Allerdings ging es an diesem Tag ja für Zimmermann auch nicht um Sprachspielereien voller Esprit, es ging darum, ein Fußballspiel um die Weltmeisterschaft einem Volk näherzubringen, das dem Ausland neun Jahre nach Kriegsende als Weltverbrecher galt, das selbst aber nach einem Triumph lechzte und den nun für möglich hielt. Kurz: Was der Reporter zu leisten hatte, war beinahe übermenschlich. Zimmermann löste diese Aufgabe, indem er sich nicht groß um sie kümmerte.“ Und indem er gemäß den Worten des israelischen Staatsgründers David Ben-Gurion handelt: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“

Szepesi hat es viel leichter. Er reibt sich nach dem Traumstart vergnügt die Hände, seine Augen glänzen, er genießt jeden Spielzug, lehnt sich entspannt zurück – und erwartet wieder so ein Schützenfest wie zwei Wochen vorher. Doch diesmal soll es ganz anders kommen. Als Max Morlock der Anschlusstreffer gelingt, sieht es Szepesi noch locker: „Huihuihui. Tatsächlich Tor, meine Hörer“. Zimmermann atmet auf: „Gott sei Dank! Es steht nur noch 1:2. Und das sollte uns Mut geben.“ Was es auch tat. Zimmermann: „Ecke für Deutschland, und... Tor! Tor! Tor! Eckball von Fritz Walter, Tor von Rahn! Aus null zu zwei zwei zu zwei! Ja ist es zu glauben, wir haben ausgeglichen gegen Ungarn, die großartigste Technikerelf, die man kennt“. Nach 18 Minuten steht es unentschieden. Etwas mehr als jede vierte Minute ein Treffer. „Kinder, ist das eine Aufregung“, gesteht Zimmermann.

Oben kneift Szepesi die Augen zusammen. Er kann es nicht glauben. Genauso wenig wie seine Landsleute unten auf dem Rasen. Sie rennen wie entfesselt an. Eine Angriffswelle nach der anderen rollt aufs deutsche Tor. Doch dort steht ein Hexer 
namens Toni Turek. An ihm prallen die ungarischen Angriffe ab wie an einem Felsen. Der Torhüter wächst über sich hinaus und bringt die Magyaren zur Verzweiflung. Zimmermann exaltiert: „Turek, du bist ein Fußballgott! Entschuldigen Sie die Begeisterung, die Fußball-Laien werden uns für verrückt erklären…“

Mit solchen Wortschöpfungen wie „Fußballgott“ und emotionalen Ausbrüchen trifft der leidenschaftliche Reporter den Nerv der Zeit. Die Formulierung „Fußballgott“ sollte ihm später viel Ärger mit der Sendeleitung und Kirchenvertretern einbringen. Auf Druck eines Parteifreundes von Bundeskanzler Konrad Adenauer muss sich Zimmermann öffentlich entschuldigen. Und es wurde in Betracht gezogen, ihn nicht mehr als Sportreporter arbeiten zu lassen. In der Nachbearbeitung der Endspielübertragung wurde aus „Turek, Du bist ein Fußballgott“ deshalb „Turek, Du bist Gold wert.“

Solche Probleme hätte Szepesi gerne. Doch seine werden immer größer. Er ist am Mikrofon genauso verzweifelt wie seine Landsleute am Ball. Mit dieser heftigen deutschen Gegenwehr haben die hoch favorisierten Pusztasöhne nicht gerechnet. Zimmermann sehnt die Halbzeitpause herbei: „Noch sechs Minuten. Zwei zu zwei. Das ist mehr, als wir in unseren kühnsten Träumen erwartet haben.“ Dann pfeift der Schiri ab. In der Pause erklingt aus den Radiogeräten Tanzmusik in schnellen, flotten Klängen. Nach einer Viertelstunde bricht sie ab und die Stimme von Lembke sagt: „Sie hörten das Tanzorchester des Hessischen Rundfunks unter Willy Berking.“

Freud und Leid

„Wir melden uns wieder aus Bern“, beginnt Zimmermann seine Übertragung der zweiten Halbzeit. „Zwei zu zwei und die Ungarn stürmen. Liebrich, immer wieder Liebrich. Liebrich rettet, rettet, rettet uns... eine herrliche Zusammenarbeit unserer deutschen Abwehrspieler.“ Die Hälfte der zweiten Hälfte ist vorbei. „Deutschland hält sich großartig“, lobt Zimmermann. Ungarn stürmt, Deutschland verteidigt – und kontert. Da geschieht es! Doch überlassen wir Zimmermann das Wort: „Sechs Minuten noch im Wankdorfstadion in Bern. Keiner wankt. Unaufhörlich prasselt der Regen hernieder. Es ist schwer, aber die Zuschauer harren aus. Eine Fußballweltmeisterschaft ist nur alle vier Jahre. Und wann sieht man ein solches Endspiel? (...) Bozsik, immer wieder Bozsik. Der rechte Läufer der Ungarn hat den Ball verloren, diesmal an Schäfer. Schäfer nach innen geflankt. Kopfball – abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt... Tooor! Tooor! Tooor! Tooor!“ Zimmermann ist aus dem Häuschen: „Drei zu zwei führt Deutschland fünf Minuten vor dem Spielende. Halten Sie mich für verrückt, halten sie mich für übergeschnappt, ich glaube, auch Fußball-Laien sollten ein Herz haben und sollten sich an der Begeisterung unserer Mannschaft und an unserer Begeisterung mitfreuen und jetzt die Daumen halten.“ Zimmermann ahnt die Sensation: „Noch drei Minuten... und Daumendrücken, Daumendrücken... und Deutschland stürmt! Der Sekundenanzeiger, er wandert so langsam...“

Szepesi dagegen ist ein Häuflein Elend: glasige Augen, brüchige und matte Stimme, versteinerte Miene, heruntergefallenes Kinn, zusammengesackter Körper. Er ahnt, dass es bald vorbei sein wird. Zimmermann hingegen flippt völlig aus: „Drei zu zwei für Ungarn – für Deutschland, ich bin auch schon verrückt. Entschuldigung. (...) Die Ungarn erhalten einen Einwurf zugesprochen. Der ist ausgeführt – kommt zu Bozsik – aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister. Schlägt Ungarn mit drei zu zwo Toren im Finale in Bern.“

Der deutsche Jubel explodiert auf dem Spielfeld und den Rängen. Wildfremde Menschen fallen sich überglücklich in die Arme. Bei der Siegerehrung singen viele Deutsche im Stadion euphorisch die erste Strophe ihrer Hymne: „Deutschland, Deutschland über alles.“ Die Schweizer Radiosender brechen ihre Übertragung empört ab, da seit zwei Jahren nur noch die dritte Strophe des Deutschlandliedes gesungen werden soll.

Das „Wunder von Bern“ ist für die Deutschen perfekt. Für Ungarn ist und bleibt es die „Wunde von Bern“. Der zu Spielbeginn noch feurig wie Paprika wirkende Szepesi ist fassungslos, erschüttert, ratlos. Er ringt nach den passenden Worten, findet sie aber nicht. Dieser redegewaltige Reporter kann nicht mehr richtig sprechen. Stattdessen rinnen Tränen über sein Gesicht. Er weint die letzten Worte seiner Übertragung förmlich ins Mikrofon und schluchzt: „Was wahr ist, ist wahr. Wir haben dieses Spiel verloren. Liebe Hörer, es ist sehr schwer für mich, irgendetwas zu sagen, glauben Sie mir.“ Seine kickenden Landsleute blieben nach dem Finale zwei Jahre lang unbesiegt, wurden zwischen 1950 und 1956 in 50 Begegnungen nur ein einziges Mal geschlagen und das ausgerechnet in ihrem allerwichtigsten Spiel an diesem 4. Juli 1954 in Bern.

Geweint hat auch der zweifache Torschütze Helmut Rahn, allerdings vor Freude, als er die Worte Zimmermanns später angehört hat. „Langsam kullerten mir die Tränen die Backen herunter. Ich schämte mich nicht. So war das also gewesen. So dramatisch! So überwältigend! Und ich hatte dabei sein dürfen“, gestand der „Boss“. Wie recht der Schweizer Schriftsteller Max Frisch doch hatte: „Worte verbinden nur, wo unsere Wellenlängen längst übereinstimmen.“ Das galt jedoch nicht für einen anderen deutschen Rundfunkreporter, der das Spiel übertrug. Bei Radio DDR kommentierte Wolfgang Hempel sachlich, aber unterkühlt. Was ihm viel Kritik aus den Reihen der DDR-Bevölkerung einbrachte. Denn diese freute sich mit ihren Landsleuten aus dem anderen Teil Deutschlands und musste nicht wie Hempel aus politischen Gründen Rücksicht auf das ungarische Brudervolk nehmen.

Aus den bundesdeutschen Radiogeräten erklingt die gleiche Stimme wie zum Beginn der Übertragung und in der Pause: „Hier sind alle Sender der Bundesrepublik Deutschland. Reporter war Herbert Zimmermann. Die Sendung ist beendet. Wir schalten zurück nach Deutschland“, sagt Robert Lembke. Aus und vorbei – aber unvergessen!

Trauer in Siebenbürgen

Nicht nur der Erfolg der deutschen Mannschaft, sondern auch die mitreißenden Worte Zimmermanns machten das Endspiel der WM 1954 zum Mythos – und ihn selbst zur Legende. Umso mehr, da die damalige Fernsehübertragung mit dem Kommentar von Bernhard Ernst nicht erhalten werden konnte, weil seinerzeit eine Videoaufzeichnung von Live-Sendungen technisch unmöglich war. Deshalb kam ein für die Wochenschau gedrehter Film in die deutschen Kinos, unterlegt mit der fesselnden Radioreportage Zimmermanns. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Immer, wenn im deutschen Fernsehen über die WM '54 berichtet wird, ist Zimmermanns unverwechselbare Stimme zu hören. 

Die Rechte an der Radiotonspur hat Hans-Christian Ströbele. Zimmermann war der Onkel des Urgesteins von Bündnis 90/Die Grünen. „Nicht einmal mein Onkel hat mit einem deutschen Sieg gerechnet. Als er ins Stadion gefahren ist, hat er sich mit seinen Kollegen überlegt: Das ist ja keine dankbare Aufgabe, ein Spiel zu übertragen, in dem Deutschland sowieso verliert“, meinte Ströbele.

Szepesi konnte die unerwartete Niederlage bis an sein Lebensende nicht vergessen: „Wenn wir an dieses Spiel denken, weinen wir Ungarn immer noch“, klagte er. Und erzählte zum besseren Verständnis folgende Geschichte: „Am Tag nach dem Endspiel reiste eine ungarische Schauspielertruppe durch Siebenbürgen. In Székelyudvarhely sahen sie, dass alle Menschen Schwarz trugen. Die Darsteller stiegen von der Bühne und fragten: ‚Warum trauert Ihr?‘ Eine alte Frau sagte: ‚Weil wir gestern das Spiel verloren haben.‘ Da fragte ein Schauspieler: ‚Ja, hast Du denn je in deinem Leben ein Fußballspiel gesehen?‘ ‚Nein‘, antwortete sie, noch nie. Aber alle sagten, dass Siebenbürgen mit Ungarn wiedervereinigt wird. Wenn wir nur noch dieses eine Spiel gewinnen, dann können wir alle heimkehren nach Ungarn.“ Bei Székelyudvarhely handelt es sich um Odorheiu Secuiesc (Oderhellen), das frühere politische und kulturelle Zentrum des Szeklerlandes, im Kreis Harghita.

Todtraurig war auch ein Metzger namens József Fischer, der 1946 mit seiner Familie aus Wudigeß bei Budapest von den Ungarn vertrieben und zwei Jahre später im schwäbischen Gerabronn Vater eines dritten Kindes namens Joseph Martin wurde, Joschka gerufen. Der ehemalige deutsche Außenminister erinnerte sich noch gut daran, wie er seinen Vater nach dem Finale wegen der ungarischen Niederlage weinen sah. Wobei rätselhaft bleibt, warum ein von den Ungarn vertriebener Donauschwabe acht Jahre nach der Ankunft in Deutschland wegen der Niederlage der Vertreibernation in einem Fußballspiel geweint und nicht mit den Deutschen gejubelt hat, die ihm und seiner Familie eine neue Heimat geboten haben. Ich habe den früheren deutschen Vizekanzler um eine Antwort gebeten. Doch Joschka Fischer ließ meine Presseanfrage unbeantwortet. Keine Antwort ist auch eine Antwort...

Jubel im Banat

Ganz anders als der Ungarndeutsche József Fischer verhielten sich die Banater Schwaben, die 1954 mehrheitlich in der alten Heimat lebten und sich riesig über den WM-Triumph ihrer Nation freuten. Verfolgt haben sie das Finale im Radio, Fernsehen konnte damals im Banat noch nicht empfangen werden. Der aus Jahrmarkt stammende Peter Zerwes (86) hörte sich die Übertragung mit Szepesi im ungarischen Rundfunk auf der Straße an: „Etwa 20 Leute waren vor dem Gostat versammelt. Das Gerät stand bei geöffnetem Fenster in einem Büro. Der Empfang war nicht gut, aber wir bekamen mit, wann die Tore fielen.“ Ein Landsmann, Jahrgang 1937, aus Sanktandreas erinnert sich: „Wir hörten das Spiel im Hof eines Nachbarn auf einem ungarischen Radiogerät der Marke Orion im österreichischen Rundfunk. Nach der Pause war unsere Stimmung sehr gut. Der Reporter sagte beim Stande von 2:2: ‚Ich weiß nicht, ob den Ungarn der Paprika fehlt.‘ Nach dem Schlusspfiff haben wir gejubelt und bei einem Glas Wein gefeiert.“ Dieses Spiel im Sender der RAVAG, der Vorgängerin des ORF, kommentierten Heribert Meisel und Edi Finger Senior. Finger wurde zur Legende, als er beim Siegtor von Hans Krankl während der WM 1978 in Argentinien beim 3:2 in Cordoba über Weltmeister Deutschland sechsmal in Folge „Tooor“ schrie, zweimal mehr als Zimmermann 24 Jahre vorher, und dazu „I werd narrisch“ rief. Kein Wunder, denn es war der erste österreichische Sieg über den großen Nachbarn seit 47 (!) Jahren.

Der aus Hatzfeld stammende Josef Koch (84) hat die WM in der Schweiz ebenfalls in guter Erinnerung: „1953/54 war ich im zweiten Jahrgang in der Temeswarer Deutschen Pädagogischen Lehranstalt. Nach Ende des Schuljahres machte unser Jahrgang mit Klassenlehrer Jakob Hübner einen Ausflug nach Weidenthal im Banater Bergland. Unser Klassenkollege Franz Loidl stammte aus Weidenthal, wo seine Eltern vor dem Krieg ein Wirtshaus betrieben. In den Nachkriegsjahren war es geschlossen und der große Saal leer. Täglich gab’s schöne Wanderungen und abends Gemeinschaftsspiele. Ausnahme bildete der 4. Juli 1954. Da fand das Endspiel in Bern statt. Wir wussten zwar, wer gegen wen spielt, aber nur wenige Namen waren uns bekannt. Die Eltern von Franz hatten noch von früher ein einfaches Rundfunkgerät, das an diesem Nachmittag im großen Saal aufgestellt wurde. Übertragen wurde das Spiel von Kossuth-Radio Budapest. Alle Jungs und auch viele Mädchen saßen eng beieinander und lauschten dem Reporter Szepesi. Wir verstanden nur wenig, aber wann ein Tor fiel und wer es schoss, war leicht an seiner Stimme zu erkennen. Bei den ungarischen Toren litten wir und hatten uns auch schon mit der Niederlage abgefunden. Aber nach dem deutschen Siegtreffer gab’s kein Halten mehr, nur noch Jubel. Kurz danach schnappten wir uns einen Ball, verließen froh gestimmt den Raum und zogen Richtung Fußballplatz. Anfangs, da wir nicht genug Spieler hatten, damals spielten noch keine Mädchen Fußball, kickten wir nur auf ein Tor. Wenig später strömten auch die Weidenthaler Jungs auf den Platz, und danach kickten wir, die Päda, gegen die Weidenthaler. Das Ergebnis spielte keine Rolle, alle waren froh und glücklich.“

Nicht so die Ungarn im Banat. In Grabatz zeigte eine Ungarin nach dem deutschen Siegtreffer wütend ihr nacktes Hinterteil im Gassenfenster. Daran erinnern sich manche Landsleute heute noch. Und im Mitteilungsblatt „Banater Berglanddeutsche“ schrieb Walter Woth Senior: „Für die ungarischen Fans war das Ergebnis unfassbar, inakzeptabel. In Reschitza bei den Sieben Häusern flog ein Volksradioempfänger (Radio Popular) aus dem Fenster eines ungarischen Nachbarn bis hinunter in die Zweite Reihe. Dagegen ist bei dem deutschen Bevölkerungsanteil eine Euphorie ausgebrochen, es wurde nur noch von Fritz Walter geredet. Seine Figur wurde regelrecht zur Ikone stilisiert. Begabte lokale Kunstgießer bildeten ihn ab, z.B. Hochofenmeister Getsche. Er erstellte Rohlinge, die durch seine Arbeitskollegen entgratet und bemalt wurden.“

Sanktannaer imitiert Szepesi

Aus Glogowatz hat Walter Lowitz interessante Details in Erfahrung gebracht: „Da das Arader Elektrizitätswerk bereits 1895 gegründet wurde und es bis Glogowatz nur circa sechs Kilometer sind, war damals fast die gesamte Gemeinde bereits elektrifiziert. Es gab vier Radiogeräte im Ort. Eines der Marke Staßfurt hatte der spätere Feuerwehrkommandant Martin Freisinger nach dem Krieg aus Deutschland mitgebracht. Er schloss einen Lautsprecher an, damit die etwa 50 Männer in seinem Hof, darunter viele Feuerwehrleute, gut hören konnten. Verfolgt wurde das Spiel im österreichischen Rundfunk. An jenem Sonntag wurde zweifach im Dorf gefeiert, da es noch eine Hochzeit gab.“ In Darowa existierten drei Radiogeräte, und die Lehrer wie auch andere Fußballbegeisterte haben das Spiel im Rundfunk beim Vater des späteren Lehrers Karl Orner verfolgt.

Aber wie konnte man damals im Banat überhaupt Radio hören, wo es doch so gut wie keinen elektrischen Strom in den Ortschaften gab? „Vorwiegend mit Batterien“, erzählt der vorhin zitierte Sanktandreaser. „Mehrere davon wurden aneinander gelötet, eine musste frei bleiben. Keine Ahnung, warum. Die Batterien hatten wir bei jüdischen Geschäftsleuten gekauft. Mit einem Voltmeter wurde regelmäßig die Spannung gemessen. Es gab auch einen Stromgenerator, aber nur fürs Kulturhaus und die LPG. Im Dorf waren nur wenige Radioapparate.“

In Semlak wurde Radio mit Hilfe von Akkumulatoren gehört, wie Georg Braun von seinem 87-jährigen Landsmann Georg Ludwig Poth erfahren hat. Dieser verfolgte die Finalübertragung mit György Szepesi im ungarischen Rundfunk mit einem Ohrmuschel-Kopfhörer. Das Dorf hatte damals 6000 Einwohner, darunter überraschend viele mit einem Radioapparat. Die Akkumulatoren waren Batterien, die aufgeladen werden mussten. Diese Aufgabe übernahm der Semlaker Hans Schilling, der in Dortmund eine Lehre als Elektrotechniker gemacht hatte, bevor er in seinen Heimatort zurückgekehrt ist.

In Sanktanna sprachen viele Banater Schwaben ungarisch. So auch der vor acht Jahren in Nürnberg verstorbene Franz Schmidt. Er verfolgte viele Sportübertragungen mit den emotionalen Kommentaren von György Szepesi im ungarischen Radio und Fernsehen. Der Reporter hatte es ihm so angetan, dass Schmidt ihn regelmäßig nachmachte und zu einem begnadeten Szepesi-Imitator wurde – zur Gaudi seiner Landsleute sowohl in der alten als auch in der neuen Heimat.

Szepesi und Zimmermann sollten sich bei der WM 1966 in England ein letztes Mal begegnen. Der Deutsche kommentierte das Finale im Radio, der Ungar im Fernsehen. In meinem Geburtsort Großjetscha wurde in einem Hof das Endspiel zwischen Engländern und Deutschen im ungarischen Fernsehen geschaut, der Ton mit Szepesis Kommentar aber abgedreht. Stattdessen erklang aus dem Radio Zimmermanns Stimme vom Bayerischen Rundfunk.