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Erinnerungen an die Deportationsjahre von Elisabeth Gehl: „Jeden Krümel Brot haben wir gegessen“

Elisabeth Gehl im 93. Lebensjahr, etwa ein Jahr vor ihrem Tod 2017

Elisabeth Gehl, geborene Klug, als junge Frau vor der Deportation

Elisabeth Gehl (stehend, zweite von rechts) mit Leidensgenossen im Arbeitslager Budjonowka am 8. August 1947 Einsenderin der Fotos: Dr. Anneliese Linnhoff

„Zwecks Zuführung zu Arbeiten in der UdSSR sind alle arbeitsfähigen deutschen Männer zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren aus den von der Roten Armee befreiten Gebieten Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei zu mobilisieren und zu internieren.“ So steht es in einem Befehl, den Sowjetdiktator Stalin am 16. Dezember 1944 erteilte. Der österreichische Historiker Stefan Karner veröffentlichte diesen als „streng geheim“ eingestuften Befehl in seinem Buch „Im Archipel GUPVI* - Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956“, das 1995 im R. Oldenbourg Verlag (Wien, München) erschien. Genau genommen fand Karner in russischen Archiven nicht den Stalin-Befehl, sondern ein anderes Dokument, in dem der Stalin-Befehl wörtlich zitiert wird.
Von der Verschleppung in die Sowjetunion im Januar 1945 waren mindestens 70000 Rumäniendeutsche betroffen. Eine von ihnen war Elisabeth Gehl, geborene Klug, geboren am 2. Mai 1923 in Neuarad, gestorben am 10. Oktober 2017 in Berlin. In einem Interview, das Ernst Meinhardt für den Hörfunk der Deutschen Welle** mit ihr führte, berichtete sie über ihre Erinnerungen an die Zwangsarbeit in der Sowjetunion. Die „Banater Post“ bringt jetzt das vollständige Interview. Es enthält Details, die möglicherweise auch mehr als 75 Jahre danach nicht jedermann bekannt sind.

Welche Erinnerungen haben Sie an den Tag Ihrer Verschleppung?
Es sind russische Soldaten mit Gewehren gekommen. Sie brachten uns in ein großes Gebäude, das mal einer Baronin gehörte. Von dort wurden wir dann mit Lastwagen zum Bahnhof gefahren.

Sie sagen „russische Soldaten“. Also, nicht rumänische, sondern russische Soldaten? 
Ich glaube, dass es russische Soldaten waren, aber hundertprozentig sicher bin ich nicht. 

Zu welcher Tageszeit wurden Sie abgeholt?
Bei mir zu Hause waren sie morgens zwischen 5 und 6 Uhr. Ich wurde von zwei Soldaten abgeholt. Sie brachten mich in das eben erwähnte Gebäude. Von dort ging es dann zum Arader Bahnhof. Das muss noch am gleichen Tag gewesen sein, denn ich kann mich nicht erinnern, dass wir in dem Haus der Baronin geschlafen hätten. Am Bahnhof mussten wir in Viehwaggons einsteigen.

Wie lange standen die Waggons am Bahnhof, bis sie abfuhren?
Drei Tage standen wir am Bahnhof. Um die Waggons herum war alles abgeriegelt. Draußen standen Posten. Da konnte niemand mehr weg.

Wie alt waren Sie, als Sie verschleppt wurden?
21 Jahre alt. 

Es gab Leute, die sich versteckten, um nicht verschleppt zu werden. Sie taten es nicht.
Nein, ich hatte Angst, dass sie dann an meiner Stelle meinen Vater mitnehmen.

Haben sie ihn mitgenommen?
Nein, nur mich. 

Wie lange waren Sie in Russland?
Ich war fünf Jahre in Russland, vom 13. Januar 1945 bis zum 22. Oktober 1949. 

Wie lange dauerte die Fahrt bis Russland?
Ungefähr vierzehn Tage waren wir unterwegs.

Mit wie viel Gepäck sind Sie weggefahren?
Ich bin sehr arm weggegangen. Ich hatte nur Wechselwäsche für einige Tage dabei. Mehr hatte ich nicht. Meine Eltern wollten mir noch einen Koffer mit Lebensmitteln mitgeben. Aber gerade als sie am Arader Bahnhof ankamen, fuhr unser Zug ab, so dass sie mir den Koffer nicht mehr geben konnten.
Als wir in Russland ankamen, wurde erst ausgewählt, wer wofür geeignet war. Mich hatten sie für die Küche vorgesehen. Dann kam aber ein Chef, der sagte: ‚Die ist viel zu schön für die Küche.‘ So kam ich zuerst in eine Sandgrube. Wir mussten Sand, Zement und Kalk auf Lastwagen laden. Es war sehr schwere Arbeit. Jeweils zwei Leute mussten einen Lastwagen beladen. Manchmal waren wir auch zu dritt. Nachdem dieses Lager aufgelöst wurde, kamen wir in den Kohlebergbau, wo wir auf verschiedene Schächte verteilt wurden. Ich kam in den Ort Budjonowka. Da hatte ich einmal großes Glück. In einem Schacht haben sich fünf Waggons ausgehängt. Sie rasten auf mich zu und hätten mich überrollt, wenn mich eine Deportierte, die Fischer Nani, nicht im letzten Augenblick weggerissen hätte. Unser Schacht war 360 Meter tief. Treppen gab es nicht. Wenn es regnete, ist man auf dem abschüssigen, glitschigen Pfad weggerutscht. Andere Schächte hatten einen Aufzug. Wir mussten zu Fuß hinunter und hinauf gehen. Die Duschen waren 200 Meter vom Schacht entfernt. Im Winter war es so kalt, dass unsere verschwitzten Kleider auf diesem kurzen Stück zu Eis gefroren sind.

In wie vielen Lagern waren Sie?
Ich war in zwei Lagern. Erst war ich in Enakiewo. Das war ein Sammellager. Von dort kam ich nach Budjonowka. Beide Lager befanden sich im Donezbecken, im Donbass, also in der Ukraine. Wir sagen zwar immer Russland und Russlandverschleppung. Das hat sich so eingebürgert. Aber genau genommen war ich – wie sehr viele andere – in der Ukraine. Von dort habe ich auch sehr viel später, in den 1970er Jahren, für die Rentenversicherung eine Bescheinigung über die Dauer meiner „Wiederaufbauarbeit in der Sowjetunion“ erhalten.

Wie viele Deportierte teilten sich im Lager einen Raum?
Das weiß ich nicht mehr. An allen Wänden standen Pritschen. Nur die Tür war frei. Anfangs mussten wir auf blanken Brettern schlafen, weil es keine Strohsäcke gab. Erst nach drei Wochen durften wir Stroh für die Strohsäcke holen. Ich erinnere mich noch, dass wir dafür kilometerweit gehen mussten.

Wie war die Verpflegung?
Ich bin nie satt geworden. Zu essen gab es meist „Suppe“. In Wirklichkeit war es Krautwasser mit sehr wenig Gerste drin. Wenn in der „Suppe“ Fleisch war, dann waren es zwei, drei winzige Krümel. In der ersten Zeit gab es überhaupt kein Fleisch. Jeden Krümel Brot haben wir gegessen. Wenn wir nach dem Essen aufstanden, sah der Tisch wie abgewaschen aus.
In den ersten drei Jahren erkrankte ich an Typhus, Malaria, Lungenentzündung. Ich bin bis auf 35 Kilo abgemagert. Mein Sarg war schon gemacht. Die meisten Toten wurden nur in einem Erdloch verscharrt. Wir hatten täglich 12 bis 16 Tote. Für mich haben die Landsleute Geld gesammelt, damit ich einen Sarg bekomme. Aber der liebe Gott wollte es anders und ließ mich noch leben. Im Krankenhaus wurde ich sofort kahlgeschoren. Alle, die da lagen, waren kahlgeschoren. Ich glaube, das wurde wegen der Läuse gemacht. 

Wie war die ärztliche Behandlung, wie war die Versorgung mit Medikamenten?
Wahrscheinlich hatten sie geeignete Medikamente, sonst wäre ich ja nicht gesund geworden. Aber schon nach dem ersten Krankenhaus-Aufenthalt war ich sehr geschwächt. Diese Szene habe ich heute noch vor Augen: Ein Lastwagen kam, um mich aus dem Krankenhaus abzuholen. Weil ich keine Kraft hatte aufzusteigen, packte mich jemand unten an den Füßen und warf mich hinauf. Dieses Bild sehe ich heute noch: mein Mantel offen, die Strümpfe unten, an den Füßen bloß Gummischuhe, die vorn und hinten offen waren. Im Lager kam ich dann auf die Krankenstation. Dort hatten wir einen deutschen Arzt aus Sathmar, Dr. Holzmann, und einen älteren russischen Arzt, der mich sehr mochte.
Dreimal stand ich auf der Liste für die Heimfahrt. Nie war ich transportfähig. Jedes Mal, wenn ein Rücktransport bevorstand, war ich so schwach, dass ich nicht mitfahren konnte. Schon im ersten Jahr hätte ich nach Hause fahren sollen, dann im zweiten, dann im dritten. Aber immer war ich nicht transportfähig. So musste ich fünf Jahre mitmachen.

Wie war das Lagerleben?
Unser „Natschalnik“, also unser Lagerchef war Philipp Geltz. Ich kannte ihn gut. Er stammte wie ich aus Neuarad und war ein großer Kommunist. In der Stalin-Zeit in den 1930er Jahren hatte er eine Funktion in Moskau. In den 1950er Jahren in der Zeit von Gheorghiu-Dej ist er sogar zum Minister in Bukarest aufgestiegen. Aber 1945 wurde auch er aus Rumänien nach Russland verschleppt, weil er „Volksdeutscher“ war. 
Als ich in unserem Lager auf der Krankenstation lag, ordnete er an, dass ich mittags das Essen bekam, das die Offiziere bekamen. Eine Frau musste es mir bringen. Es war sehr gutes Essen. Aber ich konnte es nicht essen, weil ich keinen Appetit hatte. Die anderen Kranken haben sich gefreut, sie haben es gegessen.
Eine Zeitlang habe ich in Budjonowka in einer Schule gearbeitet – als Putzfrau. Da lebte eine alte Frau, die mit mir immer Mitleid hatte. Von ihr bekam ich immer wieder „Kartoffelsuppe“. Das war Wasser mit bisschen Kartoffel drin. Manchmal brachte sie auch heimlich Mais. Den legten wir auf eine Platte und bräunten ihn. Was war das für gutes Essen!
Später wurde ich „Krankenschwester“, weil ich zum Arbeiten zu schwach war. Da kam dann auch wieder mein Appetit zurück. In einem kleinen Zimmer der Krankenstation lagen drei Lungenkranke. Der Arzt sagte mir, wenn du hineingehst, wasch‘ dir hinterher sofort die Hände, selbst dann, wenn du in dem Zimmer nichts gemacht hast. Ich habe das ignoriert. Die Patienten in diesem Zimmer haben kaum gegessen. Was sie nicht gegessen haben, habe ich gegessen. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal Hunger erlebt haben. Hunger tut weh. Einmal bekamen die Kranken Bonbons. Sie leckten ein wenig daran und legten sie wieder weg. Ich habe sie dann abgespült und gegessen. In den ganzen fünf Jahren bin ich sonst nie zu Bonbons gekommen.

Wie verhielt sich Ihr Neuarader Landsmann Philipp Geltz den Deportierten gegenüber?
Er war immer mit den Offizieren zusammen, besprach sich mit ihnen. Ich hatte den Eindruck: Was er sagte, das war heilig. 

Hat er die Neuarader bevorzugt behandelt?
Mich hat er bevorzugt. Ob er auch andere bevorzugte, weiß ich nicht. 

Wie sprach er mit Ihnen? Russisch? Rumänisch? Deutsch?
Er hat mit allen deutsch gesprochen. 

Ist Geltz 1945 mit Ihnen nach Russland gekommen?
Ja, er ist genau zur gleichen Zeit wie wir nach Russland gekommen. Aber in Russland war er von Anfang an „Natschalnik“. 

Haben Sie in der Zeit Ihrer Verschleppung Russisch gelernt? 
Nicht viel, aber verkaufen ließen wir uns nicht. Wenn wir zur Arbeit gehen mussten, wurden wir im Lager von zwei Aufsehern abgeholt. Als wir zu Fuß durch die Straßen gingen, riefen uns die Kinder „Fritzi! Fritzi“ zu. Und sie bewarfen uns mit Steinen. Das war aber nur in der Anfangszeit so, später nicht mehr. Die alten Leute mochten uns, sie bedauerten uns. Die jungen Leute weniger.

Russlandverschleppte berichten, dass sie wegen des Hungers stehlen gingen, dass sie manchmal sogar vom „Natschalnik“ dazu angestiftet wurden. Wenn sie erwischt wurden, sollten sie aber nicht sagen, dass er sie zum Stehlen geschickt hat. Sind auch Sie stehlen gegangen?
Irgendwann war ich mal zum Arbeiten auf einer Baustelle eingeteilt. Wir hatten Nachtschicht. Wir mussten Sand und Kalk und Mörtel schleppen. In der Nähe der Baustelle war ein Gemüsegarten. Wir waren zu fünft oder zu sechst und beschlossen in einer Pause: „Kommt, wir gehen stehlen.“ Ich bin mit Herzklopfen mitgegangen, kam aber nur bis zum Fahrweg vor dem Garten. Dort blieb ich stehen wie ein Pflock. Ich konnte nicht in diesen Garten hineingehen. Alle anderen klauten, was sie fanden: Kartoffeln, Tomaten und was es sonst noch gab. Ich stand mitten auf dem Fahrweg und weinte. Keine zehn Ochsen hätten mich in den Garten gebracht. Meine Kameraden gaben mir dann etwas von dem ab, was sie geklaut hatten. Aber ich hätte nicht stehlen können. Das war wahrscheinlich die Prägung von zu Hause: „Was nicht dein ist, darfst du nicht nehmen.“

Russlandverschleppte erzählen, dass sie zwar nicht von Anfang an, aber später Lohn erhielten. Sie auch?
Ja, ab dem dritten Jahr bekamen wir Geld. 

Von dem Geld musste sich jeder auch seine Verpflegung kaufen?
Ja. Unser Hauptessen war Brot. Da schütteten wir viel Öl drauf, Sonnenblumenöl. Und dann kam noch Zucker darauf, Kristallzucker. Hat das geschmeckt!

Durften Sie das Lager verlassen?
Nicht von Anfang an. Das war erst später möglich, ab wann genau, weiß ich nicht mehr. Wir durften aber nur an unserem freien Tag aus dem Lager gehen. Und wir mussten melden, wohin wir gingen.

Was war Ihr schlimmstes Erlebnis in den fünf Jahren in Russland?
Eigentlich alles, vor allem aber die Krankheiten, der Hunger, die vielen Toten, die aus dem Lager hinausgebracht wurden. Besonders furchtbar war es im Winter. Da ragte aus den „Gräbern“ schon mal eine Hand oder ein Fuß heraus, weil wegen des Frosts nicht tief genug gegraben werden konnte. Das war schrecklich.

* GUPVI = russische Abkürzung für „Staatliche Verwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten“
** Interview aufgezeichnet am 7. August 1995 in Berlin, Erstveröffentlichung des vollständigen Wortlauts jetzt in der „Banater Post“