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Deutsche Soldatenfriedhöfe im Baltikum (Teil 1)

Walter Schneider und Alfred Ivanov (von links) am Ufer des Grenzflusses Narva mit der russischen Festung Ivangorod im Hintergrund

Auf dem Soldatenfriedhof in Rakvere fand Alfred Ivanov auf einer Steinplatte den Namen des Grabatzers Nikolaus Moor, dem Bruder seiner Bitto-Oma, der am 11. August 1944 im Lazarett Rakvere verstorben ist.

In diesen Gräbern auf dem Soldatenfriedhof in Narva ruhen jeweils ein bis vier namentlich bekannte wie auch unbekannte Gefallene der Narva-Front. Fotos: Walter Schneider

96 Stunden, so lange dauerte unsere über 5000 Kilometer lange Reise bis nach Narva an den östlichsten Rand der Europäischen Union und wieder zurück. Eine Reise in eine erschütternde Vergangenheit, welche die Angehörigen der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen und Vermissten bis heute beschäftigt.

Zur Fertigstellung seiner Dokumentation „Endstation Narwa“ über die in den baltischen Ländern gefallenen Banater Deutschen fehlten Alfred Ivanov noch Fotos von den Kriegsgräbern. Sein bereits gebuchter Flug nach Estland wurde wegen der Corona-Pandemie gestrichen. So entschlossen wir uns, diese weite Reise mit dem Auto zu wagen. 

Die drei baltischen Republiken Litauen, Lettland und Estland blicken auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Sie sind 1918 infolge des Friedensvertrags von Brest-Litowsk zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten entstanden. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 wurden sie von der Sowjetunion annektiert. Als die Wehrmacht 1941 diese Länder besetzte, schlossen sich tausende Freiwillige der Waffen-SS im Kampf gegen die Rote Armee an. Im Oktober 1944 wurden die baltischen Republiken erneut von der Sowjetarmee besetzt und als Sozialistische Sowjetrepubliken der Sowjetunion eingegliedert. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion erlangten sie 1990 ihre Unabhängigkeit wieder.

Über 2200 Kilometer bis zur Grenzstadt Narva lagen vor uns. Die 24-Stunden-Hinfahrt führte uns bei schönem Sommerwetter am Samstag, dem 11. Juli 2020, von Hessen über Thüringen, Berlin und Frankfurt/ Oder zuerst nach Polen. Wir waren überrascht von dem gepflegten und guten Zustand der polnischen Autobahnen und Raststätten, wenngleich uns die Mautstellen und die Gebühren weniger passten. Am Abend näherten wir uns der polnischen Hauptstadt und bestaunten eine imposante Skyline. Da die Autobahn durch die 1,7-Millionen-Einwohner-Metropole an der Weichsel führt, konnten wir einiges von dem abendlichen Stadtbild fotografisch festhalten.

Beeindruckt von dem abendlichen Warschau fuhren wir weiter Richtung Osten, immer weiter. Der Verkehr wurde ruhiger, die vielen Brummifahrer hatten bereits die Rastplätze entlang der E67 angefahren und wir kamen nach einem Abendbrot und Kaffee über Białystok und Augustów der Grenze zu Litauen immer näher.

An einer von Brummis überfüllten, aufgelassenen und verwahrlosten Grenzanlage, einem Relikt aus kommunistischer Zeit, gelangten wir nach Litauen. Inzwischen hatten wir rund 1500 Kilometer – die wohl leichteren – zurückgelegt und noch fast 800 lagen vor uns.

Zügig näherten wir uns Kaunas, dem nationalen Herz Litauens. Kaunas, am Zusammenfluss der Memel und der Neris gelegen, war zur Zeit der Unabhängigkeit Litauens bis 1940 Landeshauptstadt. Viele interessante bauliche Zeugnisse aus der Zeit, als dieses Land von den deutschen Ordensrittern christianisiert wurde, sind bis heute gut erhalten und hier zu bewundern. Auf dem Soldatenfriedhof hier liegen über 5000 Gefallene.

Auf der fast schnurgeraden E77, vorbei an den Städten Šiauliai (mit einem Soldatenfriedhof, auf dem rund tausend deutsche Kriegstote beider Weltkriege ruhen) und Joniškis, passierten wir im Morgengrauen, ohne es zu merken, die Grenze nach Lettland. Bis zur lettischen Hauptstadt Riga war es nun nicht mehr weit. Eine Stadtbesichtigung hatten wir jedoch erst für den Rückweg eingeplant, sodass wir an Riga vorbei, weiter durch eine endlose Ebene zwischen Birkenwäldern hindurch, der aufgehenden Sonne entgegenfuhren, immer Richtung Nordosten. Die Landschaft ähnelte immer mehr der jenseits der Ostsee, zumal entlang der Straße, wie in Skandinavien, Hinweisschilder vor Gefahr durch Elche warnten. Die ersten Elche sahen wir jedoch erst in Estland friedlich am Straßenrand grasen.

Inzwischen war es ein strahlend heller Sonntagmorgen geworden. Nach einem ausgiebigen Frühstück in würziger Morgenluft auf einem Rastplatz in einem Birkenwald, einem Fahrerwechsel und weiteren 200 Kilometern waren wir in Estland.
Bis zu dem großen deutschen Soldatenfriedhof in Narva, dem Endziel unserer Reise, lagen immer noch fast 300 Kilometer vor uns. Sie führten uns auf einem gut ausgebauten Straßennetz durch eine eigenartig schöne Landschaft: einem dünn besiedelten Flachland mit vielen Birkenwäldern, entlang der Ostsee, mit einsamen Sandstränden und Dünen, mäandernden türkisfarbenen Flüssen, vorbei an Mooren und bunten Wiesen.

Vielleicht abgelenkt von der idyllisschen Landschaft oder vor Müdigkeit befuhren wir ab Tartu unbeabsichtigt einen Umweg über Rakvere (deutsch Wesenberg) nach Narva. Den Soldatenfriedhof hier wollten wir eigentlich erst auf dem Rückweg besichtigen.

Der deutsche Soldatenfriedhof in Rakvere liegt wie eine gepflegte Parkanlage, umgeben von Wald, am Rande der Stadt. Auf großen grauen Steinplatten stehen die Namen der Gefallenen, der Dienstgrad sowie Geburts- und Todesdaten. Zentral steht ein großer Gedenkstein für alle gefallenen und vermissten Kriegsopfer.

Für Alfred hat der Besuch des Soldatenfriedhofs in Rakvere eine besondere Bedeutung. Hier ruhen die Gebeine von Nikolaus Moor aus Grabatz, dem Bruder seiner Bitto-Oma, der als 23-Jähriger am 11. August 1944 im Lazarett Rakvere verstorben ist. Ein bewegender Moment!

Warum wurden die baltischen Länder, inbesonders Narva in Estland und Saldus in Lettland, im Zweiten Weltkrieg zum Friedhof für so viele Banater Schwabensöhne? Ohne zu tief in die Geschichte der Schlacht um Narva beziehungsweise der Kurlandschlacht einzutauchen, scheint es sinnvoll, kurz die Kriegsgeschichte zu bemühen.

Im Februar 1944 hatte die Rote Armee den Grenzfluss Narva erreicht. Bei den erbitterten Kämpfen um den Brückenkopf Narva im Osten Estlands sind bis Mitte August über 15000 aufopferungsvoll und tapfer kämpfende deutsche Soldaten in 
einem aussichtslosen Kampf ums Leben gekommen. Fast alle banatschwäbischen Ortschaften haben hier in Narva mit ihren Gefallenen und Vermissten der Sinnlosigkeit dieses Krieges einen hohen Blutzoll geopfert. Die jungen Banater Schwaben wurden hauptsächlich zum Auffüllen der dezimierten Nederland- und Nordland-Divisionen herangezogen, als Kanonenfutter für einen bereits verlorenen Krieg. Die zahlenmäßige Übermacht der Roten Armee wurde durch täglich neu eintreffende Truppen immer gewaltiger. Die deutschen Truppen bildeten in Anspielung auf die erfolgreiche deutsch-russische Schlacht 1914 bei Tannenberg die sogenannte „Tannenberg“-Verteidigungslinie. Doch auch diese Stellung hielt dem übermächtigen Ansturm nicht stand.

Doch zurück zur Gegenwart. Auch wenn wir während dieser Baltikum-Reise fast überall auf Spuren der Geschichte und der jüngsten Vergangenheit gestoßen sind, ist die Verherrlichung des „Großen vaterländischen Krieges“ in Museen und im öffentlichen Raum durch Denkmäler und Statuen von Kriegshelden als Relikt aus Sowjetzeiten immer noch allgegenwärtig. Kein Wunder, ungefähr ein Viertel der estnischen Bevölkerung ist durch Stalins Bevölkerungsaustausch russischer Abstammung.

Narva, die drittgrößte Stadt Estlands mit ca. 60000 meist russischen Einwohnern, liegt am Finnischen Meerbusen, an der Grenze zu Russland. Die Wahrzeichen der Stadt sind die Hermannsfeste, das Rathaus sowie die orthodoxe Auferstehungskirche und die Alexanderkirche.

Wegen seiner strategischen Lage war Narva bereits seit dem frühen Mittelalter Schauplatz erbitterter und großer Schlachten, zuletzt 1943-1944. Die vielen Gefallenen während der Schlacht um Narva erforderten das Anlegen von deutschen Soldatenfriedhöfen.