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Der Tod hat viele Gesichter: Selbstmord (Suizid). Banater Schicksale aus drei Jahrhunderten (Teil 4)

Titelblatt der Erstausgabe von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“

Grabstätte der Maria Seelig-Hintz auf dem Friedhof von Perjamosch-Haulik Foto: Helmut Ritter, 1996

Dr. Ludwig Diel (1888-1944) Quelle: Banater Museum Temeswar

Die Begriffe Selbsttötung, Selbstmord, Suizid und Freitod bezeichnen den freiwilligen Tod eines Menschen, betonen jedoch jeweils andere Facetten des tragischen Ereignisses. Ohne verzweifelt zu sein, nimmt sich kein Mensch das Leben. Wir betrachten den Freitod als etwas sehr Persönliches und es steht uns nicht zu, Werturteile zu fällen. Ludwig Schwarz schreibt im dritten Buch seines „Kaule-Baschtl“ (1981, S. 278): „Ja, ja, mir urteile zu schnell un zu hart un verzeihe schwer, viel zu schwer…“

In seiner „Geschichte des Selbstmords“ (1996) fragt Georges Minois: „Was ist spezifisch menschlicher als der freiwillige Tod?“ Die Selbsttötung bei Tieren ist ein Mythos. Vom Altertum bis in die Gegenwart haben Menschen den Freitod gewählt. Die Liste der prominenten Selbstmörder ist lang. Trotzdem ist Suizid auch heute noch ein Tabuthema in der Gesellschaft und wird als Makel angesehen, oft totgeschwiegen und verdrängt. Das war aber nicht immer so.

In der Bibel ist Selbsttötung nirgends ausdrücklich als sündhaft beurteilt. Zu Beginn des Christentums galt der Freitod nicht als verwerflich. Solange Märtyrer gebraucht wurden, war es eine ehrenvolle Todesart. Der christliche Tod muss aber ein Beweis der Treue zu Gott sein, er darf nicht um seiner selbst willen oder aus Verzweiflung gesucht werden. Der freudige Tod des Märtyrers steht im Gegensatz zum verzweifelten Tod des Sünders.

In „De civitate Dei“ („Vom Gottesstaat“, 5. Jahrhundert) verkündet Augustinus, „dass niemand freiwillig den Tod suchen darf, um zeitlicher Pein zu entgehen, er würde sonst der ewigen anheimfallen“. Thomas von Aquin (13. Jahrhundert) erklärt den Suizid als Akt gegen die göttliche Ordnung. 

Die Synode von Nîmes 1284 beschloss, Selbstmördern das Recht auf ein Begräbnis in geweihter Erde zu verweigern. Auch im Banat wurden früher die Selbstmörder lange Zeit in ungeweihter Erde bestattet. Wilhelm Josef Merschdorf schreibt im Heimatbuch Tschakowa (1997, S. 539): „Häretiker, Selbstmörder u.a. von der Kirchengemeinde als unwürdig betrachtet, wurden immer außerhalb des Friedhofs (…) beigesetzt und dies auch im Kirchenbuch vermerkt: Christian Pusch, 49 Jahre, gestorben am 12. Mai 1772, Häretiker aus Riga in Lettland, ‚ruht außerhalb des Friedhofs, beim Kreuz‘; (…) Andreas Zwach, 21 Jahre, gestorben am 11. Januar 1825, Selbstmörder, wurde außerhalb des Friedhofs beigesetzt (‚inhumarunt post Coemeterium‘)“. 

Goethe gelingt es, in seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) das Tabu des Freitodes als Thema in die Literatur einzubringen. Werthers Selbstmord ist die Tat eines ‚freien‘ Menschen, der sich nicht mehr an gesellschaftliche Konventionen gebunden fühlt.

Die Philosophen und der Suizid

Auch die Philosophen haben sich mit der Problematik des Suizids befasst. Immanuel Kant (1724-1804) spricht sich klar gegen die Selbsttötung aus. Für Arthur Schopenhauer (1788-1860) verneint der Selbstmörder bloß das Individuum, nicht die Spezies. Beim Selbstmord handelt es sich um einen Trickversuch, um den Härten des Lebens auszuweichen. Der Selbstmord ist für Friedrich Nietzsche (1844-1900) der „vernünftige Tod“, während der natürliche Tod der unvernünftige ist: „Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur“.

Karl Jaspers (1883-1969) weist auf den geheimnisvollen Charakter vieler Selbstmorde hin und verteidigt den Selbstmörder. Mit Erfahrungswissen kann man niemals erkennen, warum ein Mensch Selbstmord begeht. 

Das letzte Werk des 1912 in Wien geborenen Jean Améry (Hanns Maier) trägt den Titel „Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod“ (1976). Darin hat er Selbstmord als eine letzte Freiheit des Menschen verteidigt – als ein „Privileg des Humanen“. Améry plädiert für mehr Ausgewogenheit im Urteil über Selbstmord, weist aber auch auf die Absurdität vieler Selbstmorde hin.

Die vom Christentum geprägte Kultur gesteht dem Menschen in der Wahl seines eigenen Todes nicht die volle, selbst verantwortete Freiheit zu. So schreibt Martina Martin in ihrem Roman „Banat“ (1990): „Ich kann und will nicht ohne dich leben. Wenn du stirbst, sterbe ich mit“, sagte Felix zu Marianne. „So darfst du nicht sprechen“, sagte Marianne und rückte näher an ihn heran. „Ein jeder lebt sein Leben, und niemand hat das Recht dazu, es sich zu nehmen, fortzuwerfen, wo man doch nur eines hat“.

Der Suizid in der Familie wird von den Hinterbliebenen als „Schande“ empfunden. Was bleibt, ist nicht nur die Trauer, sondern auch die Wut und die Frage nach dem Warum. Der Selbstmörder löscht nicht nur sich selbst aus, sondern er rächt sich auch an den Hinterbliebenen. So schreibt die „Dettaer Zeitung“ vom 30. Januar 1897: „In Groß-Becskerek erschoß sich der Infanterist Albert Zunderstein in der Kaserne mit seinem Dienstgewehr. Zunderstein war kurz vor der That bei seinen Eltern, mit denen er einen Konflikt gehabt hatte, infolge dessen er zum Selbstmörder wurde“.

Immer wieder unternommene Suizidversuche können auch Hilferufe sein, die ernstgenommen werden müssen. 

Zum Schmunzeln: Ein Mann hat bereits vier Selbstmordversuche überlebt: „Wenn das so weitergeht“, sagte er, „bring ich mich noch um!“

Ursachen des Selbstmords

Die Gründe, weshalb Menschen sich das Leben nehmen, sind sowohl objektiver als auch subjektiver Natur. Sie reichen vom einfachen Liebeskummer bis zum begangenen Mord. Den Suizid jedoch durch eine genetische Veranlagung zu begründen, ist falsch. Es gab jedoch auch Familien, in denen sich Selbstmord häufte. Als tragisches Beispiel sei hier die Familie Toni aus M. genannt, in der sowohl der Vater, der Sohn, die Tochter und der Schwiegersohn zwischen 1953 und 1982 durch Freitod aus dem Leben geschieden sind.

„Selbstmord ist ein stets vorhandener Notausgang“, schreibt Hermann Hesse im „Steppenwolf“. Doch was muss passieren, damit man die Tür zu diesem Notausgang wirklich aufstößt?

Nikolaus Hehl (Hell), königlicher Kameralrentmeister in Csatád und Taufpate Nikolaus Lenaus (geb. 1802), starb durch einen Sturz in den Brunnen. War es Selbstmord?

Am 19. Dezember 1897 veröffentlichte die „Dettaer Zeitung“ den Brief des Leopold Salzmann aus Werschetz, ein gebürtiger Lugoscher, welcher sich in Detta im Hotel Bellavista am 17. Dezember mit einem Revolver erschossen hat. Das Motiv seines Suizids soll unerwiderte Liebe gewesen sein. 

Oft sind es alte Menschen, die ihrem Leben vorzeitig ein Ende bereiten. Sie haben ihren Lebensmut verloren und wollen niemandem zu Last fallen. So auch Andreas H. (1865-1962) aus B. Er war fast blind und taub und er hat den Freitod gewählt. Der 90-jährige Karl T. (1888-1978) aus K. hat wegen liebloser Behandlung Suizid begangen. Leopoldine Brady (geb. 1871), die Witwe des Dr. Julius von Sayler aus Tirol, hat sich am 4. Juli 1938 erhängt.

Nicht selten sind es Familienprobleme, welche die Menschen dazu veranlassen, den Freitod zu wählen. „Die menschliche Natur kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist“, so Goethe.

Am 20. Mai 1929 hat sich Anna H. aus B., kaum 20 Jahre alt, wegen Eheschwierigkeiten das Leben genommen. Die Inschrift auf ihrem Grabstein ist aussagekräftig: „Wie dunkel waren meine Tagen, /Wie manches Trübsal trug ich hier, /Doch ich wollt niemand klagen, /Trug alles ruhig still in mir. /Heute rief mein Herz mir ängstlich zu, /Es ist genug, ich geh zur Ruh!“

Oft sind es Probleme in der Schule, am Ausbildungsplatz oder Auseinandersetzungen mit den Eltern, die Jugendliche zu einer Trotzreaktion und schließlich zum Selbstmord führen. Die „Dettaer Zeitung“ vom 22. November 1896 berichtet: „Aus Werschetz schreibt man: Franz Wersching, 19 Jahre alt, Schneidergehilfe, sprang (…) in den Brunnen und ertrank. Der junge Mann soll diese unselige That deshalb begangen haben, weil ihm in die Fremde zu gehen, nicht erlaubt wurde“.

Der 17-jährige Martin Albrecht aus Kleinomor hat sich am 17. Dezember 1896 erhängt, weil er nicht weiter in die Lehre gehen wollte. Josephus Schipper aus Lenauheim (Csatád), 18 Jahre alt, hat sich 1898 im Friedhof mit einer Pistole erschossen („suicidium per revolver in coemeterio“).

Heute weiß man, dass jahrelange Depressionen der Grund für viele Suizide sind. Im Banat hieß es früher lediglich, jemand sei „tiefsinnig“ gewesen und hätte sich deshalb das Leben genommen. Auch Ruhm und Reichtum scheinen kein Allheilmittel gegen das Phänomen des Freitodes zu sein.

Formen der Selbsttötung

Der Selbstmord kann sowohl geplant (Bilanz-Suizid) als auch eine Kurzschlusshandlung (spontaner Suizid) sein. Die Art und Weise, wie Menschen sich das Leben nehmen, ist sehr unterschiedlich. Die häufigste Form im Banat war der Selbstmord durch Erhängen. Andere Menschen haben sich erschossen, vergiftet, ertränkt, unter den Zug geworfen usw.

Auch psychisch kranke Menschen haben Suizid begangen. So wird in der Sterbematrikel aus M. bei Claudius H., gest. 1932 im Alter von 69 Jahren, „Selbstmord in geistiger Umnachtung“ angegeben. Und bei Martin E. aus D., gest. 1954 im Alter von 71 Jahren, ist „nach alkoholischer Geistesstörung erhängt“ als Todesursache vermerkt. Dieselbe Todesursache ist auch bei Friedrich Sch. (1945-1972) aus K. angegeben: „Selbstmord durch Erhängen in delirium tremens“ (Alkoholdelir). Johann Ortmann, geboren 1899 in Großsanktnikolaus, war acht Jahre Priester in Josefsdorf. Er hat sich in geistiger Verwirrung am Fensterkreuz der Pfarrkanzlei am 26. Februar 1936 erhängt (Hans Klein, Heimatbuch Josefsdorf, 1986).

Tragisch ist das Schicksal der begnadeten Schauspielerin Maria Seelig-Hintz. Sie wurde 1913 in Perjamosch als Tochter des Direktors der Korberschen Hutfabrik, Ing. Emil Seelig, geboren. Maria Seelig debütierte am Burgtheater in Wien. Nach der Gründung des Deutschen Landestheaters in Rumänien folgte sie 1933 dem Ruf des Intendanten Gustav Ongyerth. Den Höhepunkt ihrer Laufbahn stellt die Rolle der „Gretchen“ in Goethes „Faust“ dar. Karl F. Waldner schreibt in der Monografie von Perjamosch (1977, S. 184), dass der Tod der jungen Künstlerin am 30. Dezember 1937 ein frühzeitiges Ende setzte. Die letzte Ruhe fand sie in der Heimaterde des Friedhofs von Perjamosch-Haulik. Der Grabstein trägt folgende Inschrift: „Der Schmerz, sie verloren zu haben, soll uns nicht abhalten Gott innig zu danken für das Glück, daß sie unter uns weilte“. Weder Karl Waldner noch Anton Peter Petri nennen die genauen Umstände ihres tragischen Todes. Unseres Wissens hat Maria Seelig-Hintz sich aus Eifersucht vergiftet.

Ein langer Spruch ziert den Grabstein des Josef S. aus L., der 1940 im Alter von 36 Jahren durch Freitod aus dem Leben schied. Eine Zeile der Grabinschrift gibt einen dezenten Hinweis auf den Grund seines Tuns: „Für Deine Ehre gingst Du in den Tod“. Kantor-Lehrer Adam Waldner (1893-1966) aus Zillasch, der sich sehr für seine Landsleute eingesetzt hat, starb durch einen Sturz vom Hausboden.

Ganze Familien begingen Selbstmord

Im Herbst 1944 wurde das Banat von russischen Truppen besetzt. Die Angst der Menschen war groß, es kam zu Vergewaltigungen und Erschießungen. So zum Beispiel wurde der Lehrer Gabriel Krischan am 8. Oktober 1944 in Tschanad vor der Pfarrkirche von den Russen erschossen.

Im Heimatbuch „Neuhatzfeld Tschestelek-Cestereg 1828-1944“ (1972, S. 239) schreibt Johann Bach: „Am 3. Oktober 1944 zogen die Russen, aus Rumänien kommend, im Dorf ein, am 6. Oktober zogen sie in Richtung Ungarn ab. Die Herrschaft überließ man den blutgierigen Partisanen. Angst und Verzweiflung trieb viele unserer Menschen zum Selbstmord. Ganze Familien haben sich selbst ausgelöscht“.

„Wegen des wüsten Treibens der Russen und Partisanen haben sich über 50 Personen erhängt“, so Hans Tabar in der Ortsmonografie von Zerne (1973).

Dr. med. Ludwig Diel, geboren 1888 in Hatzfeld als Sohn des bekannten Chirurgen Dr. Karl Diel, ließ sich 1924 in Temeswar als Chirurg und Frauenarzt nieder und war Leiter und Besitzer des „Banater Sanatoriums“. Beim Einmarsch der Sowjetrussen im September 1944 beging er im Alter von 56 Jahren Selbstmord.

Martin E. aus K. hat seinen Selbstmord offensichtlich geplant, wie aus einem Gespräch, dass ich 1984 mit Kapellmeister Kohl führte, hervorgeht. Kohl spielte 1969 in Temeswar bei einem Begräbnis. Zurück im Dorf, fragte ihn Martin E.: „Vetter Sepp, wann ich jetz hemgeh un mich ufhäng, spielt ihr dann aach mei Leicht?“ Nichts Schlimmes ahnend, antwortete er: „Sicher, sogar singe tu ich dir!“ Unglaublich, was danach geschah: Martin ging nach Hause und hat sich erhängt. Er war 27 Jahre alt. 

Hatte sich jemand das Leben genommen, so war das immer eine erschütternde Nachricht für die ganze Dorfgemeinschaft. Blättert man in den Sterbematrikeln der einzelnen Pfarrämter, so stellt man mit Erstaunen fest, dass Selbstmorde im Banat gar nicht so selten waren wie allgemein angenommen. Man sollte den Suizid weder bewundern noch verurteilen, denn Selbstmord ist keineswegs ausschließlich ein Problem der Selbstmörder!