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Unwirtliche Gegend, großes Elend, schwere Arbeit (Teil 2)

Kindheit im Bărăgan: Hilde und Maria Lech im Jahr 1955

Hilde Lech 1955 vor dem ein Jahr davor erweiterten Haus der Familie. Fotos aus dem Familienbesitz

Das Leben im Bărăgan

In unseren Papieren war ein D.O. (Domiciliu Obligatoriu, das heißt Zwangsdomizil) vermerkt. Damit durften wir uns nur in einem Umkreis von 15 Kilometern bewegen. Es war auch verboten, dass uns jemand besucht. Stefans Schwester war eine der ersten, die sich getraut hatte, zu uns zu kommen. Sie blieb ein paar Tage. Stefan hatte den Milizleuten, die er von seinem Arbeitsplatz kannte, vorher Bescheid gegeben, und die drückten ein Auge zu. 

Die Bewohner der umliegenden Ortschaften sind uns anfangs mit großem Misstrauen begegnet. Man hatte ihnen erzählt, dass wir Kriminelle seien. Später sollte sich das Misstrauen legen.

In der Bărăgan-Steppe sind die Sommer sehr heiß. Der Boden war mit Staub bedeckt. Darauf konnte man barfuß kaum gehen, weil der Staub so heiß war. Im Sommer regnete es auch wenig und durch die große Hitze traten häufig Dürreperioden auf. Die Winter aber waren so frostig, dass sie oft die Wintersaaten gefährdeten. Zeitweise verursachte der heftige Wind, Crivăţ genannt, orkanartige Schneestürme mit Schneeverwehungen. 

Nachdem unser Haus endlich fertig war und wir bereits eingezogen waren, stellte sich bei einem Regen heraus, dass das Dach nicht ganz dicht war. Ein glücklicher Umstand kam uns da zu Hilfe. Wir konnten von der Farm, wo Stefan arbeitete, das alte Rohr von einem abgebrochenen Pferdestall abkaufen. Stefan bezahlte noch zwei Leute, die ihm halfen, das Rohr zu bündeln und unser Haus zusätzlich damit zu decken.

Nun mussten wir uns alles für den Winter besorgen. Auch Laub und Heu für die Kuh galt es zu beschaffen. Weil es fast den ganzen Sommer kaum geregnet hatte, war das Laub so klein und schwach, dass die Kuh sogar die Stängel mitfraß. Wir kauften uns auch einen kleinen Sparherd für die Küche und Holz zum Heizen. Und wir konnten ein kleines, circa 80 bis 90 Kilogramm schweres Schwein zum Schlachten kaufen. Die Grundnahrungsmittel wie Brot, Milch, Zucker, Mehl und Öl waren rationiert. 

Im ersten Winter (1951/1952) hat unser Herrgott mit uns gehalten. Es war ein sehr milder Winter, wie man es in dieser Gegend nicht gewohnt war. Im darauffolgenden Frühling nahm das Leben fast seinen normalen Lauf. Jeder, der konnte, suchte sich Arbeit. Außerdem mussten ein Gemeindehaus, eine Schule, ein Kulturheim, eine Milizstation und eine Krankenstation in gemeinsamer Arbeit von den Bewohnern gebaut werden. Dies geschah ohne Bezahlung. Die Leute wurden für diese Arbeiten tageweise eingeteilt. Desgleichen wurden auch einige Brunnen mit Drehkurbelkette und Eimer gegraben. Auf Wasser stieß man erst in einer Tiefe von 36 Metern. Nun brauchte man nicht mehr an der Zisterne um jeden Tropfen Wasser zu kämpfen. Unser Haus ergänzten wir mit einem Schuppen für die Kuh sowie einem Schweine- und einem Hühnerstall mit Hühnerhof. Nun waren auch die Tiere versorgt.

Wie aus dem Banat her gewöhnt, bearbeitete ich den Garten sowie zwei gepachtete freie Hausplätze und mästete Schweine, von denen wir im Herbst eines oder zwei verkauften, um auf diese Weise zusätzliches Geld zu verdienen.

Der zweite Winter (1952/1953) war schon härter. Es war viel kälter und es wehte ein stürmischer Wind. Nun war es auch für Stefan sehr schwer, den Weg zur Farm täglich zurückzulegen. Montag bis Samstag arbeitete er ganztags und am Sonntag bis Mittag. Einmal hieß es, es seien Wölfe über den zugefrorenen Fluss gekommen. Da nahm Stefan eine Axt im Rucksack mit, um sich zur Not gegen die Wölfe wehren zu können. Gott sei Dank ist es aber nie zu so einer Situation gekommen.

Am 15. August 1953 wurde unsere Marie geboren. Sie war ein Wunschkind und Hilde war mit ihrer kleinen Schwester überglücklich. Sie passte auch ganz brav auf sie auf, wenn ich beim Einkaufen, Wasser holen oder im Garten war. Zum Zeitpunkt der Geburt unserer Tochter waren die Vorschriften schon etwas aufgeweicht. Wir durften zwar immer noch nicht weg, aber es durfte Besuch kommen. Und so kamen beide Großmütter zur Unterstützung angereist. Die ärztliche Versorgung im Ort funktionierte ganz gut. Wir hatten eine sehr gute ältere jüdische Ärztin und mehrere Hebammen. Nur einen Priester gab es natürlich nicht und auch keine Kirche. Als unsere Marie neun Monate alt war, kam an einem Sonntag überraschend ein ungarischer katholischer Wanderpriester in den Ort. Er hielt eine Messe vor der Schule, taufte die neu geborenen Kinder, vollzog Trauungen und segnete die Gräber. So kam es, dass Marie mit neun Monaten, unter freiem Himmel, auf meinem Arm sitzend und von ihrer Schwester Hilde und unserer lieben Nachbarin Resi Peter getauft wurde. Stefan konnte leider nicht dabei sein, da alles sehr kurzfristig und überraschend kam. Dennoch waren wir sehr glücklich über die Taufe. 

Der dritte Winter (1953/1954) war wieder ein sehr harter Winter mit ganz heftigen Schneestürmen. Der Crivăţ jagte mit bis zu 150 Stundenkilometern über die offene Steppe und es kam zu Meter hohen Schneeverwehungen. Es fiel so viel Schnee, dass man jede halbe Stunde Tag und Nacht durch das Fenster klettern und den Hauseingang freischaufeln musste, falls die Haustüre nach außen aufging. Und aus Platzgründen ging auch bei uns die Tür nach außen auf. Die Leute, die das nachts nicht machten, waren bis in der Früh ganz eingeschneit und mussten warten, bis einer ihrer Nachbarn sie freischaufelte.

Auch unser Haus war an der Seite, wo das Küchenfenster war, von oben bis unten völlig eingeschneit. Und weil wir hinter dem Haus den Kuhstall hatten, mussten wir einen Tunnel durch den festen Schnee schaufeln, um bis zur Kuh zu gelangen. 

An solchen stürmischen Tagen konnte man sich kein Wasser vom Brunnen holen. Wenn man ins Freie ging, musste man Mund und Nase bedecken, damit der Wind einem nicht den Atem abschnürte. Und auch die Wimpern froren zusammen. Mit den Fingern musste man sie dann auftauen, um wieder sehen zu können. Wir hatten vorgesorgt und rechtzeitig Wasser in Fässern mit dem Handwagen für uns und die Tiere nach Hause geschafft. 

Stefan war immer, auch bei schlechtem Wetter, in die Arbeit gegangen, aber einmal war der Schneesturm so heftig, dass er zu Hause bleiben musste. Wir beschlossen, es uns gemütlich zu machen. Ich fing mit dem Kochen an, in der Stube war es ganz schön warm. Auf einmal kam von der Decke etwas heruntergefallen. Was war passiert? Weil die untere Lage Rohr an unserem Dach krumm war und nicht dicht auflag, hatte der Wind den Speicher bis oben zur Spitze mit Schnee vollgeblasen. Durch die Wärme in der Stube fing der Schnee im Speicher zu schmelzen an und weichte den Deckenputz aus Lehm auf, der nun anfing herabzufallen. Bei diesem Anblick ist uns der Appetit vergangen und mit der Gemütlichkeit war es vorbei. Wir löschten gleich das Feuer im Sparherd und öffneten das Fenster, um für Abkühlung zu sorgen. Den Kinderwagen und das Kinderbett deckten wir ab, um zu verhindern, dass Marie und Hilde nicht vielleicht etwas abbekommen.

Ich grübelte in der Nacht, was wir tun könnten, um die Lage zu verbessern. Am Morgen hatte ich einen Plan, wie das Haus erweitert und umgebaut werden könnte, mit einem Windfang sowie einer sich nach innen öffnenden Haustür, damit wir bei so einem extremen Schneesturm nicht immer durchs Fenster rausklettern mussten. 

Sobald im Frühling das Wetter es erlaubte, fing ich an, Lehmziegel zu machen. Es war eine mühselige Arbeit, weil ich das ganze Wasser herbeischaffen musste. Erneut kam uns ein glücklicher Umstand zu Hilfe. Von einem abgebrochenen Stall konnten wir Ziegel abkaufen und von einem Grabatzer Tischler ließen wir zwei kleinere Fenster und zwei Türen anfertigen. Und da war unser Bau auch gleich fertig. Straßenseitig bis zum Fahrweg hin legten wir noch einen Blumengarten an. Für den Zaun wurden Drähte in drei Reihen gespannt, in die Maisstängel eingeflochten wurden. Die Blumen trösteten mich etwas über das ganze Elend hinweg.

1954 ließ der rumänische Bürgermeister in der Dorfmitte einen Tiefbrunnen mit Motor graben, so dass die Bewohner nun gutes und genügend Wasser hatten. Dann verließ er den Ort. Er sagte, er gehe nun zurück in seine Heimatstadt Konstanza, weil er alte Leute und kleine Kinder nicht weinen hören könne. 

Die Zeit verging und im Herbst 1955 musste Hilde zur Schule. Es gab nur eine rumänische Schule im Dorf. Anfangs war es sehr schwer für sie, weil sie nur wenig Rumänisch sprechen konnte. Ich begleitete sie immer auf ihrem Schulweg und als die Winterstürme begannen, band ich ihr noch ein Tuch über den Kopf, so dass sie nur ein wenig herausschauen konnte, und führte sie an der Hand.

Auch den letzten Winter 1955/1956 haben wir gut überstanden. Per Dekret vom 20. Dezember 1955 wurden wir offiziell frei. Wir bekamen neue Ausweise ohne den D.O.-Vermerk und durften wieder in die alte Heimat zurück. Es war es keine Gratisreise, denn für die Kosten musste jeder selbst aufkommen. Aber diesmal haben wir unsere Sachen mit Freude gepackt. Es ging ja zurück in unser geliebtes Deutschsanktmichael, zu unseren Verwandten und Freunden. 

Familie Peter ist gleich, nachdem sie ihre Entlassungspapiere erhalten hat, nach Hause gefahren. Die Freundschaft mit der Familie, die in der Verschleppung entstanden war, hat ein Leben lang gehalten. Wir haben uns immer verbunden gefühlt.

Stefan und ich beschlossen, das mühselig Erarbeitete unbedingt mitzunehmen. Stefans Schwester kam, um die Kinder vorab mit der Bahn ins Banat zu bringen. Marie war inzwischen zweieinhalb Jahre alt. Genau so alt wie Hilde, als wir verschleppt wurden. Und mein Vater kam, um uns beim Packen und Einladen in die Waggons zu helfen. Wir bestellten zwei Waggons, einen für uns und das Vieh (eine Kuh, ein Rind, Schweine, Hühner und eine Katze), einen zweiten für das Getreide. Das wollten wir mitnehmen, da es im Banat in jenem Jahr eine Missernte gegeben hatte. Das Haus durften wir nicht verkaufen, aber wir überließen es einem Mazedonier, der uns zum Dank mit unseren Sachen zum Bahnhof brachte.
Ich blieb bis zuletzt mit den Tieren zu Hause und als auch ich mit dem Mazedonier wegfuhr, jaulte auf einmal unser Hund Hektor, als wollte er rufen: „Lasst mich doch hier nicht zurück!“ Fast hätte ich ihn vergessen. Da lief ich aber schnell zurück und holte ihn mit. 

Mein Vater fuhr mit dem Personenzug und Stefan und ich langsam mit den zwei Waggons mit dem Güterzug bis Rumänischsanktmichael. Am 30. März 1956 trafen wir glücklich in Deutschsanktmichael ein.

Nun mussten wir wieder, und zwar zum dritten Mal seit unserer Heirat, von vorne anfangen.

Schlussbemerkung

Das Dorf Salcâmi gibt es schon lange nicht mehr. Es steht nur noch ein Wasserturm, wie mir ein gleichfalls dort Geborener berichtete. Den Rest hat die Natur zurückerobert. 

Ich finde es bewundernswert, wie meine Eltern es geschafft haben, in all dem Elend und bei all der schweren Arbeit zwei Kinder gesund durchzubringen. Die gegenseitige Liebe, Zähigkeit und Fleiß und nicht zuletzt viel Gottvertrauen dürften dabei geholfen haben. Ich kann mich bewusst an keine Entbehrung erinnern. Die Gesundheit meiner Eltern hat natürlich sehr darunter gelitten. Meine Mutter hatte im Bărăgan ihre ersten Herzrhythmusstörungen. 

Die späte Anerkennung des von deutschen Zwangsarbeitern erlittenen Leids und schweren Schicksals durch die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2016 hat meiner Mutter ein stilles Lächeln entlockt. Mein Vater ist 2011 verstorben und hat dies nicht mehr erlebt.

Anmerkungen der HOG Deutschsanktmichael 

Das Bürgermeisteramt der Gemeinde Rumänischsanktmichael, zu der Deutschsanktmichael gehört, entschied 1951, die etwa vierzig Familien Makedonier (Mazedonier), die 1947 aus der Dobrudscha nach Deutschsanktmichael gekommen waren, allesamt in den Bărăgan zu deportieren. Vermutlich aus diesem Grund wurden nur drei deutsche Familien aus unserem Dorf verschleppt. Die Deportation der Familie unseres früheren Ehrenvorsitzenden Nikolaus Peter zusammen mit seiner Mutter Theresia Peter, geborene Arenz und seiner Schwester Theresia war extrem unmenschlich, da der Vater Josef Peter bereits 1937 verstorben war. 

Und wie ging es weiter mit Familie Lech nach ihrer Heimkehr? Beide Töchter absolvierten ein Studium in Temeswar. Hilde studierte Mathematik an der dortigen Universität und später Physik in München. Sie entschied sich für eine Lehramtslaufbahn. Maria Margareta studierte Architektur am Polytechnischen Institut und wurde Architektin.
Das Ehepaar Lech konnte mit Tochter Hilde 1976 ausreisen. Tochter Maria Margareta folgte mit ihren Ehemann 1978. Sie hat, wie auch ihre Eltern, in Augsburg eine neue Heimat gefunden. Hilde lebt mit ihrer Familie in Mammendorf im Landkreis Fürstenfeldbruck.  Nikolaus Heber