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Der letzte Kaiser im Banat

„Wenn der Kaiser spricht, legen sogar die Engel ihre Harfen beiseite.“
Max Merkel

Das Banat haben mehrere Kaiser und Kaiserinnen besucht. Den Anfang machte Kaiser Joseph II. Er unternahm weder Hof- noch prunkvolle Fürstenreisen, sondern reiste offiziell. Reisen war Arbeit für den Sohn von Kaiserin Maria Theresia. Sein Besuch im Temescher Banat 1768 sowie die Durchreisen 1770 und 1773 waren Inspektions- oder Revuereisen zum Erwerb von Kenntnissen über seine Landesteile. Fast ein Drittel seiner Regierungszeit war Joseph II. auf Reisen. 1817 stattete Kaiser Franz I. von Österreich zusammen mit seiner Gattin, Kaiserin Karoline, Herkulesbad einen Besuch ab. Sieben Jahre später wurden dort ein Hotel nach ihm und ein Bad nach seiner Frau benannt.

Am häufigsten weilte Kaiser Franz Joseph I. im Banat. Zuerst 1852, als er den Grundstein für das Siegesdenkmal in Temeswar legte, das er der dortigen österreichischen Garnison widmete. 20 Jahre später kam er wegen der Überschwemmungen in der Region nach Temeswar. Ebenso 1879, als die von Marosch und Theiß verursachten Überflutungen die Stadt Szeged zerstörten und deren Bürger von den Temeswarern untergebracht wurden. 1887 kurte seine Gattin, Kaiserin Elisabeth, sechs Wochen in Herkulesbad. Sisi hat die liebliche Landschaft sehr genossen und ihr das Gedicht „Mein Zauberthal“ gewidmet (siehe nebenstehend). Kaiser Franz Joseph I. kam 1891 abermals nach Temeswar anlässlich der Industrie- und Landwirtschaftsmesse, die für ihn von europäischer Bedeutung war. Er hat auch Busiasch besucht sowie 1896 Herkulesbad auf seiner Fahrt zur Einweihung der Schifffahrt am Eisernen Tor zusammen mit dem rumänischen König Karl I. 

Es folgte eine kaiserlose Besuchspause von 113 Jahren. Dann war es wieder mal soweit. Obwohl es sich bei dem prominenten Besucher gar nicht um einen richtigen Kaiser handelte. Trotzdem war er der bekannteste von allen: Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer.

Wie kam er eigentlich zu diesem Spitznamen? Das lag weniger an seiner eleganten, leichtfüßigen und geschmeidigen Art Fußball zu spielen als vielmehr am Besuch der österreichischen Hauptstadt. Die Wiener Austria hatte anlässlich ihres 60. Vereinsjubiläums den FC Bayern München mit Franz Beckenbauer zum Freundschaftsspiel eingeladen. Am Tag nach dem 4:0-Sieg der Bayern gab es einen Empfang für beide Mannschaften in der Hofburg. „Dort nahm mich Starfotograf Herbert Sündhofer vor einer Büste mit Kaiser Franz Joseph I. auf. Da war der Kaiser nicht mehr aufzuhalten", schmunzelte Beckenbauer. Auf jenem Foto vom 5. August 1971 schaut er im weißen Hemd mit kurz gebundener Krawatte und gemustertem Sakko sowie mit auf dem Rücken verschränkten Armen ehrfurchtsvoll zu Franz Joseph I. empor. Und eine neue Regentschaft hatte begonnen – die von Kaiser Franz dem Einzigartigen. Ein Jahr später wurde er Europameister, 1974 Weltmeister, viermal Europapokalsieger, einmal Weltpokalsieger, Weltmeistertrainer und und und. Der Rest ist Geschichte... „Der Kaiser selbst trägt sein Reich in sich“, schrieb der „Playboy“.

Unseren zweiten Besuch innerhalb von drei Jahren des weltberühmten Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal des Musikvereins mit Maestro Daniel Barenboim nutzten wir, um die „Regierungszentrale“ der Habsburger zu besichtigen. Dabei standen wir im Entree der Neuen Hofburg an der 1908 von der österreichischen Bildhauerin Lona von Zamboni in Stein geschlagenen Büste von Kaiser Franz Joseph I. – 38 Jahre nach Franz Beckenbauer. Nur wussten wir das damals noch nicht. Ich erfuhr es während der Recherche für diese Kolumne. 

Einmalige Stippvisite

Ebenfalls unbekannt geblieben ist bis heute eine außergewöhnliche Autogrammstunde mit Franz Beckenbauer im Banat. Am 18. August 2009 stattete der Kaiser Temeswar seinen einzigen Besuch ab. Damals arbeitete er als Experte für den deutschen Fernsehsender Sat.1. Der feierte an jenem Dienstag nach sechs Jahren Pause mit seiner Kultsendung „ran“ Comeback. Zwischen 1992 und 2003 hatte „ran“ über die Bundesliga berichtet. Ab 2009 war die Champions League in „ran“ dran. Beckenbauer analysierte für „ran“ drei Jahre lang CL-Partien parallel zu seinem Expertenjob beim Pay-TV-Sender Sky. Franz hatte stets viel zu sagen – und behielt immer Recht. Leverkusens Ex-Manager Reiner Calmund drückte es so aus: „Bei Beckenbauer sagen alle: Du bist der Kaiser. Auf Dich hören sie. Du machst nichts falsch. Und wenn Du was falsch machst, sagen alle, das war richtig.“

An jenem Hochsommertag spielte der FC Temeswar in den Playoffs der Champions League gegen den VfB Stuttgart. Wegen eines Namenstreits hieß der rumänische Vizemeister FC und nicht Poli, was im Grunde genommen das Gleiche war. Der Anstoß wurde für 21.45 Uhr im Stadion Dan Păltinişanu, dem früheren Stadion des 1. Mai, angesetzt.

Die Carpatair-Maschine mit Kaiser Franz und 150 VfB-Fans landete aus München kommend vier Stunden vor dem Anpfiff auf dem Temeswarer Flughafen. Entsprechend groß war das Medieninteresse. „Herr Beckenbauer wird bis zum Spielende keine Interviews geben. Warten Sie nicht auf ihn“, versuchte eine blonde UEFA-Mitarbeiterin die Journalisten abzuwimmeln. Vergebens! Der Kaiser stand der größten rumänischen Fachzeitung „Gazeta Sporturilor“ (frühere „Sportul“) Rede und Antwort. Dann ging es im Fond eines Pkw Richtung NH-Hotel in Nähe des Stadtzentrums. Da passierte es! An einer roten Ampel musste der Wagen halten. Neben ihm stand ein rumänisches Taxi. Dessen Fahrer erkannte Beckenbauer, stieg aus, klopfte ans Fenster und bat den Kaiser um ein Autogramm. Franz kurbelte die Scheibe runter und kritzelte seinen Namen auf ein Stück Papier. Der rumänische Autofahrer konnte sein Glück kaum fassen und teilte es den anderen Menschen in der Umgebung mit. In Sekundenschnelle strömten Hunderte auf die vielbefahrene Straße. Alle wollten ein Autogramm vom Kaiser! Kein Wunder, dass der Verkehr zusammenbrach. Beckenbauer saß im Wagen, als sei nichts geschehen und schrieb seelenruhig ein Autogramm nach dem anderen. Mittlerweile war das Verkehrschaos so groß geworden, dass es von der Polizei aufgelöst werden musste. Als noch 90 Minuten bis zum Spielbeginn waren, beendete der Kaiser seine Autogrammstunde. Diese Episode zeigte eindrucksvoll, was für eine Lichtgestalt Franz Beckenbauer auch 26 Jahre nach seinem Karriereende immer noch war. Kein Wunder, dass die Leute ihm applaudierten, als er den Innenraum des Stadions betrat und später neben Oliver Welke am Moderatorenpult in Spielfeldnähe stand. „Der Ball ist mein Leben, alles andere Dekoration“, sagte Beckenbauer.

Welke moderierte, der Kaiser analysierte und Wolff-Dieter Fuss kommentierte für Sat.1 das Spiel vor 23446 Zuschauern. Sie sahen einen 2:0-Sieg des VfB Stuttgart. Da half es auch nicht, dass die Temeswarer Mannschaft tags zuvor in der Kathedrale war und um göttlichen Beistand gebeten hatte. Das Führungstor des VfB wurde durch einen an Ciprian Marica verursachten Elfmeter erzielt. Der rumänische Nationalspieler bestritt von 2007 bis 2011 für den VfB Stuttgart 92 Bundesligaspiele mit 19 Toren. Ich kannte ihn gut. Das letzte Mal sahen wir uns am 20. September 2012 auf der Haupttribüne des Stuttgarter Daimler-Stadions beim Europa-League-Spiel zwischen dem VfB und Steaua Bukarest (2:2) wieder. Damals spielte Marica bei Schalke 04 und war nach Stuttgart gekommen, um seine Landsleute zu sehen.

Nach dem CL-Spiel verbrachte der Kaiser eine kurze Nacht in Temeswar. Lange nach Mitternacht fiel er ins Bett. Das NH-Hotel war bei Fußballern beliebt. Einst hatten dort Ajax Amsterdam, RSC Anderlecht und Dinamo Zagreb übernachtet. Trotz der späten Bettruhe stellte Beckenbauer am nächsten Morgen auf dem Flughafen erstaunt fest, dass er „ein bisserl früh dran“ war, so dass ihm noch Zeit für einen Plausch mit den mitgereisten deutschen Journalisten blieb. Dann ging's mit Carpatair zurück nach München, wo die Maschine nach 75 Minuten Flugzeit landete. Es war eine einmalige Stippvisite des Ehrenspielführers der deutschen Nationalmannschaft im Banat, die deutliche Spuren hinterlassen hat, vor allem glückliche Menschen. Der letzte Kaiser im Banat!

Das Rückspiel in Stuttgart endete 0:0, der VfB hatte die Gruppenphase erreicht und schied im Achtelfinale gegen Barcelona aus. Für Temeswar dagegen war es der letzte Auftritt auf der Bühne der Champions League. C`est la vie!

Begehrter Starschnitt

Autogramme von Franz Beckenbauer waren nicht nur in Temeswar heiß begehrt, sondern selbst in den entlegensten Winkeln des Banats. Wie in Sokol. In dem 2000-Seelen-Dorf im Südwesten des Kreises Karasch-Severin an der Grenze zu Serbien, nahe der Mündung der Nera in die Donau, erblickte 1964 ein serbischer Junge das Licht der Welt. Er begann mit 14 Jahren bei Minerul Neumoldowa Fußball zu spielen. Der Junge hatte ein großes Idol: Franz Beckenbauer. Klar, dass er ihm schrieb und um ein Autogramm bat. Es dauerte lange, bis es per Post eintraf. Im Umschlag befand sich noch etwas: ein Starschnitt von Beckenbauer in Lebensgröße. Der glückliche Junge musste ihn zusammenkleben und hängte ihn an der Tür seines Zimmers im Elternhaus auf. Das Banater Talent machte rasch Fortschritte, wechselte zu Steaua Bukarest und gewann mit den Rot-Blauen 1986 in Sevilla den Europapokal der Landesmeister. Zwei Jahre später flüchtete der Jungfußballer nach Jugoslawien, landete bei Roter Stern Belgrad und holte mit den Serben 1991 erneut den Pokal der Landesmeister. Damit hat der Banater Junge Fußballgeschichte geschrieben. Denn: Er war der erste Fußballer, der mit zwei verschiedenen Klubs den wichtigsten europäischen Vereinspokal gewonnen hat. Was nicht mal sein Vorbild Beckenbauer geschafft hat. Der Name des Jungen: Miodrag Belodedici, einer der besten und berühmtesten rumänischen Fußballer aller Zeiten. Und wie das Leben so spielt: Beim Finale 1991 mit Roter Stern gegen Olympique Marseille sollte „Belo“ in Bari endlich sein Vorbild treffen. Beckenbauer arbeitete damals als Technischer Direktor bei den Franzosen. „Es war eine große Ehre und Genugtuung für mich, nach so vielen Jahren meinem Idol die Hand zu geben“, schwärmte Belodedici. Von der Spielanlage her haben sich beide sehr geähnelt. Belodedici spielte ebenfalls Libero und war genauso elegant, technisch versiert und ballsicher. Sein Spitzname ist „Căprioara“ (Reh).

Ein Starschnitt von Beckenbauer hing nicht nur im Jugendzimmer von Belodedici, sondern auch in vielen Zimmern und Garagen Banater Schwaben. Einige mussten mit Sepp Maier oder Wolfgang Overath vorliebnehmen, weil sie keinen Kaiser hatten. Bei mir war es zum Glück anders. Der Starschnitt mit Beckenbauer aus dem „Kicker Sportmagazin“ bekam einen Ehrenplatz in meinem Zimmer in Großjetscha, gleich nach der Paradestube. Es war mein kleines Paradies, in dem ich mich wohlgefühlt und die Schlager des deutschen Feriensenders „Club Adria“ genossen habe, der in den Sommermonaten der 70er Jahre aus Jugoslawien für die deutschen Touristen an der Adria berichtete und im Banat gut im Radio zu hören war.

Im Zimmer stand meine Bibliothek mit vielen deutschen Sportbüchern. Alle Wände und Schranktüren waren vollgeklebt und vollgehängt mit Wimpeln, Vereinsabzeichen, Anstecknadeln, Kämmen in Vereinsfarben, Trikots, Schals, Vereinstaschen, -kissen und -badetüchern. Bundesligasouvenirs in allen Formen und Farben, aber auch solche der Olympischen Spiele 1980 in Moskau, die ich im Laufe der Jahre zusammengetragen habe. Dazwischen Poster aus 50 Exemplaren der Jugendzeitschrift „Bravo“, die mein Vater 1969 von einem Besuch aus Deutschland mitgebracht hatte. Kein Zentimeter blieb frei! Unter den Originalautogrammen jene von Fritz Walter, Pele, Uli Hoeneß, Franz Beckenbauer, Sepp Maier, Georg Schwarzenbeck, Wolfgang Weber, Hans Tilkowski, Wolfgang Overath, Hans-Peter Briegel sowie ein Foto des französischen Meisters von 1984 Girondins Bordeaux mit allen Unterschriften, unter anderem der Europameister Patrick Battiston, Alain Giresse, Jean Tigana sowie Bernard Lacombe, des Weiteren von Dieter Müller, den ich im Bukarester Flora-Hotel für die „Neue Banater Zeitung“ interviewt habe und dessen Rekord mit sechs Toren in einem Bundesligaspiel heute noch Bestand hat. Leider sind mir die wertvollsten Autogramme im Zuge der Auswanderung abhandengekommen: ein Schwarzweißfoto der Beatles mit den Originalunterschriften der vier Pilzköpfe, das ich 1970 von ihnen aus ihrer Heimatstadt Liverpool erhalten habe. Heute wäre es mit einem Schätzwert zwischen 10000 und 17500 Euro ein Vermögen wert.

Mindestens so berühmt wie die Beatles ist auch Beckenbauer. Zum ersten Mal kam er 1967 mit der deutschen Nationalmannschaft nach Rumänien. In Bukarest verlor der damalige Vize-Weltmeister ein Freundschaftsspiel gegen die rumänische Auswahl mit 0:1 durch László Gergely (80.). Der Mittelfeldspieler wechselte 1970 von Dinamo Bukarest zu Hertha BSC Berlin, wurde ein Jahr später in den Bundesligaskandal verwickelt und lebenslang gesperrt. Trainer der deutschen Nationalmannschaft war Helmut Schön. Erinnern Sie sich noch an den Langen mit der Mütze? Er hat uns mit seinen Mannschaften manch hellen Lichtblick in stockdunklen Zeiten beschert. Am 23. Februar waren es bereits 25 Jahre, seit der erfolgreichste deutsche Fußball-Nationaltrainer aller Zeiten gestorben ist. Ich verbeuge mich ganz tief vor ihm und bedanke mich im Namen vieler Landsleute für tolle Spiele und große Siege, die von den Banater Schwaben überschwänglich gefeiert wurden.

Beim jüngsten 1:0-Sieg Deutschlands in der WM-Quali in Rumänien war Beckenbauer nicht mehr anwesend. Er ist gesundheitlich angeschlagen und hat sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Für den Kaiser wie für uns alle gilt ein ewig aktueller Spruch von Helmut Schön, der zeigt, was für ein feinsinniger Mensch Beckenbauers Ex-Trainer war: „Von der Höhe der Ideale zum Tal des Möglichen führt der Pfad der Erfahrung.“ 

Kommen Sie gut durch die Zeit!