zur Druckansicht

Die Mauer des Todes ist gefallen

„Wir alle sind hier, um zu erinnern. An die Nacht der Nächte, nach der nichts mehr war wie zuvor... “ Diese Worte stammen nicht aus einer Osterpredigt in der „Nacht aller Nächte“, wie die Osternacht in der Liturgie auch genannt wird. Sie stammen aus einer ganz profanen Rede. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sie gehalten, am 9. November 2019 anlässlich des 30. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer. Er erinnerte darin an die vielen Menschen, die regelmäßig montags friedlich gegen die politischen Verhältnisse in der DDR demonstriert haben, aber auch an Einzelpersönlichkeiten wie Michael Gorbatschow, der durch seine mutige Politik eine Zeit der Entspannung und Annäherung eingeleitet hat, oder Ronald Reagan mit seiner Mahnung vor dem Brandenburger Tor am 12. Juni 1987: „Mr. Gorbatschow, tear down this wall“ – „Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!“

Diese Mauer hatte 28 Jahre lang die beiden deutschen Staaten getrennt. Beide Länder waren ursprünglich durch eine scharf bewachte Grenze getrennt; nur in Berlin konnte man frei von Ost nach West gelangen und umgekehrt. In den 1950er Jahren aber zogen immer mehr Bürger der DDR über Berlin in den Westen. Um dem ein Ende zu setzen, baute die Führung der DDR 1961 mitten durch Berlin eine Mauer. Die Stadt war damit zweigeteilt. Viele Menschen verloren im Laufe der Jahre ihr Leben bei dem Versuch, diese Mauer zu überwinden. 

„Die Mauer fiel nicht einfach. Sie war brüchig geworden“, sagte der Bundespräsident in seiner Rede. „Brüchig geworden“ war sie, weil die Menschen sich mit der Teilung durch diese Mauer nicht abgefunden haben. „Die Menschen in Osteuropa haben sie ins Wanken gebracht… Ihr Mut hat den Menschen in Ostdeutschland Mut gemacht. Ihr Mut hat die Teilung Europas beendet“.

Auch wenn die Berliner Mauer, Gott sei Dank, verschwunden ist – eine andere Todesmauer besteht weiterhin. Sie scheint tod-sicher zu sein. Wir alle werden selber einmal vor dieser Mauer stehen – am Ende unseres Lebens. Denn wir sind nicht unsterblich, auch wenn wir das in Zeiten der Hochstimmung manchmal vergessen.

Das Alte Testament sagt über den Menschen ganz realistisch: „Alles Sterbliche ist wie das Gras und all seine Schönheit ist wie die Blume auf dem Feld. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt“ (Jes 40,6f.). 

Dem Tod begegnen wir aber nicht erst am Ende unseres Lebens, sondern schon Tag für Tag, in den Nachrichten von Funk und Fernsehen, in den Schlagzeilen der Zeitungen und Magazine oder im weltweiten Netz. Tag für Tag werden auch die Zahlen der Menschen genannt, die mit oder an Covid-19 gestorben sind. Der Tod aber bleibt anonym. Er reißt Menschen aus dem Leben, die uns unbekannt sind. Er steht zwar auf der Tagesordnung. Wir aber gehen meistens zur Tagesordnung über, als wäre nichts geschehen. Der tausendfache Tod, täglich vermeldet, schreckt uns kaum noch. Wir haben uns an solche Schreckensnachrichten gewöhnt. 

Doch plötzlich sind wir zutiefst erschüttert. Ein Mensch, den wir geliebt haben, ein Freund, mit dem wir uns verbunden gefühlt haben, eine Kollegin, die wir schätzen gelernt haben, ein Kind aus der Nachbarschaft, das wir von der Straße her kannten, ist gestorben. Der Tod hat einen Namen angenommen. Er hat einen uns nahestehenden Menschen bei seinem Namen gerufen, ihn aus dem Leben „abberufen“. Und wo der Tod für uns persönlich wird, gleichsam ein persönliches Gesicht annimmt, versagen alle Mechanismen der Verdrängung und Abwehr. Es geht schließlich um Leben und Tod. Fragen nach dem Tod sind immer auch Fragen an das Leben. Jeder Tote erinnert uns an den eigenen Tod. Jeder stellt unser eigenes Leben in Frage: Wer ist der Nächste aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis? Und: Bin ich es vielleicht?

Wir feiern Ostern. Wir feiern es mit all unseren Ängsten vor dem Sterben und dem Tod, mit all unseren Mechanismen, diese „unangenehmen“ Fragen zu verdrängen oder abzuwehren, mit all unseren Fragen und unserer Skepsis in Bezug auf das, was wir „die Auferstehung der Toten“ nennen. Wir feiern Ostern aber auch mit all unserer Hoffnung und Sehnsucht nach Leben, nach unzerstörbarem Leben. 
In unserem Herzen lebt eine tiefe Sehnsucht nach Leben, eine Sehnsucht nach Liebe und Geliebtwerden, obwohl wir sterben. Der französische Philosoph Gabriel Marcel verbindet die Sehnsucht nach Liebe mit Unsterblichkeit, wenn er schreibt: „Einen Menschen lieben heißt ihm sagen: Du, du wirst nicht sterben.“ So empfinden wir: Unsere Sehnsucht streckt sich trotz des Sterbens nach dem Leben aus. Warum darf ich nicht hoffen, dass Gott diese Sehnsucht erfüllen wird? Warum darf ich nicht hoffen, dass die Liebe Gottes stärker ist als der Tod? Warum sollte der Herr, der unser Bruder geworden ist, nicht in der letzten Einsamkeit unseres Lebens, im Tod, da sein und uns auffangen? Uns ist mehr verheißen, als unser irdisches Leben uns versprechen kann. Ostern knüpft an diese Sehnsucht an.

An Ostern feiern wir den „Fall der Mauer des Todes“ in der „Nacht aller Nächte“. Einer ist durchgekommen, Christus, „der Erste der Entschlafenen“. Er hat die Todesmauer überwunden. Die Mauer des Todes hat sozusagen ein Loch bekommen, durch das alle, die an Christus glauben, ins Leben gelangen können. Dieses Loch ist der kleine, unscheinbare Anfang einer großen, universalen Bewegung, die schließlich die ganze Welt verändern wird. Nichts ist mehr wie es zuvor war!

„Alles wird gut!“ Mit diesen Worten beendete die Fernsehmoderatorin Nina Ruge ihre Sendung „Leute heute“. „Alles wird gut!“ Solche Worte tun gerade in Krisenzeiten, wie wir sie auch jetzt erleben, gut. „Alles wird gut!“, so könnte man auch die Osterbotschaft auf den Punkt bringen.

Wir Christen sind aber nicht nur Menschen, die daran glauben, dass es schon irgendwie gut gehen wird, nach dem Motto: „Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“. Unsere Hoffnung hat einen Namen: Jesus Christus, der Auferstandene. Weil wir an ihn glauben, sind wir überzeugt: Die Wirklichkeit ist größer als das, was wir uns vorstellen können. Das Leben ist mehr als die Summe unserer Möglichkeiten. Weil wir an Christus, den Auferstandenen, glauben, rechnen wir nicht nur mit dem Menschenmöglichen, sondern nehmen auch die Möglichkeiten Gottes in den Blick. Mit solcher Kraft ausgestattet, können wir das Leben annehmen trotz aller Brüche, trotz allem Scheitern, trotz aller unerfüllten Hoffnungen, und das Beste daraus machen. 

In der Ostkirche – bei den Griechen, Russen, Rumänen, Bulgaren, Serben usw. – grüßt man sich an Ostern mit folgendem Gruß: „Christus ist auferstanden!“ Und der so Begrüßte antwortet: „Er ist wahrhaft auferstanden!“

Dazu folgende Anekdote: Josef Stalin kommt am Ostersonntagmorgen ins Büro. Ein Offizier im Vorzimmer springt auf, um Meldung zu machen und ruft: „Genosse Stalin, Christus ist auferstanden!“ Stalin geht stillschweigend vorbei in sein Arbeitszimmer, setzt sich in seinen Sessel und stopft die Tabakpfeife. In dem Moment tritt die Sekretärin mit einem Stapel Papier unterm Arm herein. Auch sie grüßt mit den Worten: „Genosse Stalin, Christus ist auferstanden!“ Stalin schweigt. Dann brummt er: „Ich weiß. Das wurde mir bereits gemeldet. Aber schweigen Sie darüber!“ 

Der Kommunismus wurde zu Recht auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Er hat genug Unheil angerichtet. Die Osterbotschaft wird aber immer noch – auch in Russland - verkündet und gefeiert!

Alles wird gut, weil die Mauer des Todes gefallen ist. Alles wird gut, weil mit Gottes Hilfe auch die Corona-Krise überwunden wird. Alles wird gut, weil am Ende das Leben über den Tod, die Wahrheit über die Lüge, die Gerechtigkeit über das Unrecht und die Liebe über den Hass siegen wird. Alles wird gut, nicht weil ich mir das wünsche, sondern weil Gott es so will.

Mit diesen Gedanken wünsche ich allen Landsleuten ein gesegnetes Osterfest.