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Sterben fern der Heimat

Corinna Mineur geb. Todea stammt aus Perjamosch. Sie lebt seit 1985 in Deutschland und arbeitet bei der Stadt Hamburg als Dipl.-Ing. für Umwelttechnik. Seit gut 20 Jahren engagiert sie sich in der Hospizszene. Zunächst hat sie ehrenamtlich viele sterbende und trauernde Menschen begleitet, seit dem Abschluss eines Studiums der Sozialpädagogik ist sie als Super-visorin und Ausbilderin in Sachen Sterben, Tod und Trauer tätig. Foto: pivat

Der Altdörfer Friedhof in Perjamosch. Einsender: Corinna Mineur

Gehören würdevolle Begleitung im Sterben und traditionelle Bestattung der Verstorbenen zum Kulturgut der Banater Schwaben oder der Spätaussiedler im Allgemeinen und zum Leben dazu? Oder braucht es hier keine kultursensible Betrachtungsweise, weil die Unterschiede zwischen dem Banat und dem heutigen Deutschland in Sachen Sterben, Tod und Trauer nicht existieren oder nicht sichtbar sind? Oder nicht gebraucht werden? Ist das Thema „Sterben fern der Heimat“ für uns Banater Schwaben obsolet, weil Heimat definitiv hier in Deutschland stattfindet und keiner Auseinandersetzung mehr bedarf?

Nichts ist so sicher wie der Tod! Wie und wo wird gestorben als Banater Schwabe, als Banater Schwäbin in Deutschland? Und wer soll dabei sein, wie soll es ablaufen und wer soll dieses Sterben – „mein Sterben“ – begleiten und den oder die Verstorbene in Würde beerdigen? Soll mein toter Körper im Sarg auf dem Friedhof bestattet werden, als Asche in der Urne irgendwo, anonym auf freier Wiese oder unterm Baum im Friedwald? Oder gar ganz in der alten Heimat, im Banat, in unserem Dorf? Beschäftigt uns dieses Thema und sprechen wir darüber mit unseren Lieben?

Früher in Perjamosch war das nicht nötig, Tod und Sterben waren eingebettet in christliche Rituale, folgten Traditionen und festen Konventionen und brauchten keinen individuellen Bezugsrahmen. Man wurde entweder auf dem Altdörfer Friedhof beerdigt oder halt im Neudorf, je nachdem, wo man gewohnt hat oder schon eine Grabstelle vorhanden war. Diskussionen darüber gab es nicht. Punkt.
Sterben und darüber sprechen ist auch uns Banater Schwaben nicht wirklich geläufig – das ist mir bei
Recherchen, unter anderem im Internet, aufgefallen – und doch gehört es zu unserem Alltag dazu. Es gibt so viele Geschichten zum Thema Vertreibung und Krieg und dabei erlebtes Leid und so wenig Geschichten übers Sterben und den Tod an sich. Das bleibt dem Individuum und der Familie überlassen, wie es vonstattengeht, beziehungsweise die Institution, in der gestorben wird, übernimmt die Regie.

Was ist mit den alten Menschen aus dem Banat, die an Alzheimer erkrankt sind – wie meine Tante –, die nur noch das „Früher“ präsent haben – und deren Enkel, die dieses Früher nicht wirklich kennen? Die Alten, die ständig davon erzählen, wie es damals war, in einem Leben, das den Enkeln fremd ist, und die hier sterben werden, in einer Umgebung, die sie tagtäglich neu kennenlernen müssen und wieder vergessen.

Wie gehen wir mit dieser „großen Sache von Leben und Tod“ um und was braucht es an Begleitung, an
Gesprächen, an Mut, Liebe und Zeit für unsere Zugehörigen – hier, fern der Heimat, wo Großfamilie, Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft und Seelsorge nicht mehr in dem Maße tragen wie früher? Hier, in einer modernen Gesellschaft, in der das Thema Sterben nach wie vor ein Tabu ist und selbstverständlich nur die anderen betrifft.

Wer sich sein eigenes Ende vorstellt, sich seine Endlichkeit bewusst macht, der hat es am Ende leichter, finde ich. Für mich war dieser Prozess, zusammen mit der Sterbebegleitung meiner Freundin Anneliese vor 25 Jahren, der Anfang meiner Hospiztätigkeit. Zuerst als Sterbebegleiterin, dann als Studentin der Sozialen Arbeit – speziell für den Hospizbereich – und jetzt als Supervisorin und Ausbilderin in Sachen Sterben, Tod und Trauer.

Neben praktischen Dingen, wie Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und Testament, braucht es ärztliche Fürsorge und pflegerische Fachlichkeit, die alles weiß, was am Ende gebraucht wird. Seelsorge, wichtige gelebte Rituale und vor allem das denkende Herz eines Begleiters, einer Begleiterin können helfen, ein Sterben in Geborgenheit und Liebe zu ermöglichen und es kann dazu beitragen, dass die Zeit des Sterbens zu wertvoller Lebenszeit wird.

Das denkende Herz einer Begleiterin, eines Begleiters ist dort, wo die sterbenden Menschen leben, dort, wo sie einsam sind und Angst haben, Schmerzen erleiden, ihren Frieden nicht finden können, keinen Halt und keine Hoffnung mehr haben. Als Begleiterin oder Begleiter muss ich mich in das Schicksal der anderen verwickeln lassen und Verantwortung für mein Tun und für mich selbst übernehmen. Der Weg zu anderen führt immer durch uns selbst, durch unser eigenes Herz.

Das aufzuspüren, die Liebe und Vergebung mit dem Herzen erspüren, ist für mich Grundvoraussetzung des Helfens. Auch und vor allem im Sterben. Die Plattform für die Begegnung mit anderen ist in uns,
in unserem Leben. Um der Fläche dieser Plattform Größe zu verleihen, ist es für mich wichtig, den eigenen Weg zu entdecken, die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit meines Lebens zu erkennen und anzunehmen.

Beim Hinschauen auf meine eigenen Wurzeln habe ich mich gefragt, woher die Unvoreingenommenheit im Umgang mit Sterbenden kommen könnte. Eine mögliche Antwort ist meine Prägung durch das großfamiliäre Umfeld in der ländlichen Umgebung im Banat, in der es keine Tabus um Sterben, Krankheit, Tod und Trauer gab. Das hat sicherlich auch den rein pragmatischen Hintergrund, dass es früher dort keine Altenheime gab und wenig in Krankenhäusern gestorben wurde, aber auch einen traditionellen beziehungsweise religiösen Hintergrund. Sterbende und Tote gehörten nach Hause, in die vertraute Umgebung, in die gute Stube im Haus, in den Schoß der Familie und der Nachbarschaft. Die Anwesenheit eines Priesters, das Aufbahren des Verstorbenen im offenen Sarg im eigenen Haus, die Anwesenheit vieler Menschen bei der Totenwache und der Beerdigung waren selbstverständlich. Sterben war ein natürliches Ereignis, das auch uns Kinder nicht ausgeschlossen hat. Der Anblick eines Toten hatte für mich nichts Erschreckendes, Abstoßendes oder gar Belastendes. Im Rahmen
einer Großfamilie standen die Sterbenden mit ihren Bedürfnissen, Ängsten, Wünschen und Fragen nicht alleine da, es fand sich immer jemand, der „Begleitung“ im heutigen Sinne der Hospizarbeit angeboten hat, der Zeit hatte und einfach nur da sein konnte.

Im Rückblick würde ich heute  sagen, dass der Grundstein für ein Engagement als Begleiterin/Begleiter für uns alle in diesen Erfahrungen der Kindheit liegt, dass der unvoreingenommene Umgang mit dem Thema Tod und Trauer dort seinen Anfang genommen hat, wo in der Auseinandersetzung mit sterbenden Menschen dialogische Inhalte, wie Liebe, Glaube, Demut, Hoffnung und Vertrauen, im Vordergrund standen.

In der seelsorglichen Begleitung eines Menschen bin ich selbst mein einziges Werkzeug, ich kann zwar Fertigkeiten erlernen und vervollkommnen, aber die entscheidende Ressource dieser Arbeit ist die eigene Person. Deshalb ist es für mich so wichtig, mir mein eigenes „Gewordensein“ genau anzuschauen, die persönliche Prägung ins Bewusstsein zu rufen, mich selbst ernst zu nehmen und den Fragen nach entscheidenden Ereignissen, Wendepunkten, Höhe- und Tiefpunkten in meinem Leben nachzugehen. In meiner Geschichte sind die Weichen gestellt worden für das, was mich heute ausmacht. Nur wenn ich mich damit beschäftige, kann ich lernen, mir selbst und den anderen authentisch zu begegnen.

Das Zurückkehren zu sich selbst und das Arbeiten an sich selbst kann als erste Dimension des Helfens angesehen werden. Das eigene Herz aufzuspüren ist der erste Schritt in helfenden Beziehungen, auch den innerfamiliären. Für mich ist das Herz ein Ort der eigenen Tiefe, des Glaubens an Gott, ein Ort der inneren Welt, mit all ihren Gedanken und Gefühlen. Der Weg zur Tiefe, zum Grund meines Herzens führt durch Selbsterkenntnis, durch die vielfältigen Landschaften meiner inneren Welt.

Das „In-Sich-Schauen“, dieses „In-die-Tiefe-des-Herzens-Dringen“ stellt eine unendliche Aufgabe dar. Selbsterkenntnis bildet hier einen ständigen Versuch, die Balance zu halten zwischen Licht und Schatten, zwischen Traurigkeit und Freude, zwischen Niederlage und Erfolg und nicht zuletzt zwischen Leben und Tod. Nur die im Herzen erfolgte Selbsterkenntnis lehrt uns Vertrauen und gibt Hoffnung – auch im Sterben.

Als Helfende bin ich in meiner Entwicklung kein geschlossenes Ganzes, habe ich die Verpflichtung, immer neu in Demut zu erkennen, dass der Prozess meines Menschwerdens nie abgeschlossen sein wird. Als Begleiterin im Sterben biete ich Hilfe an und lerne dabei auch selbst zu sterben. Diesen Lernprozess trete ich an, mit dem Sterbenden als Lehrer, auf den Pfaden meiner eigenen Geschichte und in meinem religiösen Kontext, in der Auseinandersetzung mit meinem Glauben.

Jeder einzelne von uns trägt ein Stück kostbaren Lebens in sich. „Sich selbst helfen“ als Voraussetzung, um anderen zu helfen, bedeutet also, das kostbare Leben in sich verantwortlich zu bewahren und zu pflegen. Dieses Vertrauen ist in unserem Inneren, in unserem Herzen beheimatet. Um solche Worte zur Sprache zu bringen, ein solches Vertrauen aufbauen zu können, bedarf es einer langen Zeit und der Erfahrung von viel Liebe. Wir brauchen das Vertrauen und die Hoffnung in die Macht und das Wunder des Lebens. Dann kann und darf Sterben dazu-gehören.