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70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen: Ein Dokument von enormer Wirkung und Tragweite

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen – das „Grundgesetz“ der Vertriebenen und ihres Verbandes – feiert am 5. August 2020 ihr 70. Jubiläum. Vor sieben Jahrzehnten wurde dieses wegweisende Dokument in Bad Cannstatt unterzeichnet und am Folgetag in Stuttgart vor dem Neuen Schloss verkündet. Diese Veranstaltung mit mehr als 150000 Vertriebenen und Flüchtlingen aus ganz Deutschland läutete den ersten Tag der Heimat ein. Aufgrund der Corona-Pandemie hat der Bund der Vertriebenen (BdV) den offiziellen Festakt „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ am 5. August, der auch als Auftaktveranstaltung zum Tag der Heimat 2020 geplant war, um ein Jahr verschoben.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat Horst Seehofer, die Ministerpräsidenten der Bundesländer sowie einige Bundesparteien übermittelten ein schriftliches Grußwort zum Jubiläum.

„Die Heimat zu verlieren, ja, mit Gewalt aus ihr vertrieben zu werden und nicht mehr in sie zurückkehren zu können: Das gehört zu den schlimmsten Erfahrungen in einem Leben“, heißt es in der Grußbotschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Millionen Deutsche hätten diese Erfahrung nach Kriegsende machen müssen. Zurück geblieben seien nicht nur Wohnung und Eigentum, sondern auch „ein unwiederbringliches Gefühl des Zuhauseseins“, eine ganze Kultur, eine Art des Miteinanderseins. Es sei für die Vertriebenen und die zur Flucht Gedrängten schwer gewesen, eine neue Heimat zu finden und sich in ihr einzurichten. „Dass das im Großen und Ganzen friedlich und ohne das Bedürfnis nach Vergeltung geschah, ist nicht genug anzuerkennen und auch jetzt noch, viele Jahre später, zu loben“, schreibt Steinmeier.

Die Heimatvertriebenen hätten schon sehr früh mit ihrer Charta auch ganz offiziell einen Verzicht auf Rache oder Vergeltung erklärt. „Sie haben damit nicht nur ihren Beitrag zum inneren Frieden im Nachkriegsdeutschland geleistet. Sie haben auf ihre Weise ganz persönlich die Konsequenzen einer Schuld auf sich genommen, die das ganze Volk auf sich geladen hatte. Und sie haben mit der Charta letzten Endes auch dazu beigetragen, dass – unter anderem mit den Ostverträgen der sozialliberalen Koalition nach 1969 – der Weg zur Versöhnung mit den polnischen Nachbarn und zum friedlichen Zusammenleben mit den Völkern der damaligen Sowjetunion sich öffnete.“

Dass wir in Europa heute in Frieden leben, sei auch das Verdienst der Charta der Heimatvertriebenen und das Ergebnis eines langen Weges von Annäherung, Verständigung und Versöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern. „Dafür können und müssen wir alle in Deutschland dankbar sein“, so der Bundespräsident.

Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950 sei „weit mehr als ein Dokument der Zeit-
geschichte“, heißt es im Grußwort von Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Diese Charta gilt völlig zu Recht als Grundgesetz der Heimatvertriebenen, formuliert sie doch umfassende Erwartungen an eine gerechte und gleiche Behandlung aller Menschen in Deutschland und Europa.“

Die Bundeskanzlerin erinnert an den 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes im vergangenen Jahr – „einer Verfassung, die wie keine andere in unserer Geschichte für politische Stabilität, wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Frieden steht“. Durch die weltweite Ausbreitung des Coronavirus seien die darin festgeschriebenen Werte und Freiheitsrechte „auf eine nie zuvor erlebte Bewährungsprobe gestellt“ worden. Zwar seien die Herausforderungen heute mit denen im Nachkriegseuropa vor 70 Jahren nicht zu vergleichen, aber „wir sollten nie vergessen, dass den deutschen Heimatvertriebenen bereits bei der Unterzeichnung ihrer Charta am 5. August 1950 in Bad Canstatt der unschätzbare Wert eines geeinten Europas bewusst war. Damals wie heute gilt, dass gemeinsame Aufgaben sich gemeinsam am besten bewältigen lassen. Mit dieser Zuversicht und Überzeugung machten sich die deutschen Heimatvertriebenen daran, Deutschland wiederaufzubauen und daran mitzuwirken, dass unser Land seinen Platz als anerkannter und verlässlicher Partner in der Staatengemeinschaft finden konnte.“
„Diese Leistung und dieses in ihrer Charta anklingende Vertrauen der Heimatvertriebenen in Völker und Menschen, die guten Willens sind, gemeinsam an einer guten Zukunft zu arbeiten, sind uns auch in der heutigen Zeit mit ihren eigenen Herausforderungen eine Quelle der Inspiration“, so Angela Merkel.

Bereits ein Jahr nach der Gründung der Bundesrepublik habe die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ mit dem Verzicht auf „Rache und Vergeltung“, vor allem aber mit dem Bekenntnis zur „Schaffung eines geeinten Europas“, in dem „die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“ Geschichte geschrieben, betont Bundesinnenminister Horst Seehofer. „Sie war ein Dokument von enormer Wirkung und Tragweite. Mit Fug und Recht kann man sie als eines der wertvollsten Dokumente der deutschen Nachkriegszeit bezeichnen.“

Aus den Zeilen der Charta spreche „der Schmerz der entwurzelten Vertriebenen, die Sehnsucht nach der Heimat, die ihnen gewaltsam genommen wurde, aber auch die Hoffnung auf Frieden und Versöhnung in Europa und der feste Gestaltungswille für die Zukunft“. Die Charta sei „ein Zeichen der Solidarität und des Willens nach Versöhnung“, „ein historisches Zeugnis der modernen deutschen Demokratie“, betont Seehofer.

Das 70-jährige Bestehen der Charta sei für ihn Anlass, „die Lebensleistung aller Vertriebenen zu würdigen, die im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte mit ihrem Mut und Pioniergeist unsere Heimat mit aufgebaut haben“. Die Selbstverpflichtungen der Charta seien verwirklicht worden, unterstreicht Innenminister Seehofer. „Denn es ist ein Verdienst der Erlebnisgeneration, dass wir heute in einem demokratischen, rechtsstaatlichen und wohlhabenden Deutschland innerhalb eines freien, geeinten und friedlichen Europa leben.“