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Freikauf der Rumäniendeutschen: Was wir wissen und was weiter unter der Decke gehalten wird

Dr. Heinz Günther Hüsch Quelle: www.kas.de

Vom 23. bis 25. Mai 2019 fand in Hermannstadt eine internationale Tagung zum Thema „Migration und Identität im rumänischen Kulturraum“ statt. Organisiert wurde sie von der Hermannstädter Lucian-Blaga-Universität, dem Tübinger Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde und dem Münchner Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas. Der Berliner Journalist Ernst Meinhardt berichtete über den „Freikauf der Rumäniendeutschen – Was wir wissen und was weiter unter der Decke gehalten wird“. Den Teilnehmern aus Rumänien, Deutschland, Österreich, Frankreich und den USA konnte er erstmals einen genaueren Betrag in Bezug auf die deutschen Zahlungen für Aussiedler nennen. Im Folgenden veröffentlicht die „Banater Post“ den Vortrag im Wortlaut.

Heute vor 70 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde in Bonn das Grundgesetz verkündet und damit die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Es freut mich sehr, dass ich genau an diesem Jahrestag hier in Hermannstadt über ein Thema sprechen darf, das für die Geschichte unserer Länder – Deutschland und Rumänien – ebenfalls von Bedeutung war: der Freikauf der Rumäniendeutschen.

Für Rumänien bedeutete er, dass es einen großen Teil seiner deutschen Minderheit verloren hat. Für Deutschland bedeutete er, dass es 226000 Neubürger erhielt, deren Integration keinerlei Schwierigkeiten bereitete, weil sie die deutsche Sprache als Muttersprache beherrschten, weil sie gut ausgebildet waren, weil sie fleißig und arbeitsam waren und sich deswegen rasch und problemlos in das soziale, wirtschaftliche und politische Leben ihrer neuen Heimat eingliederten.

Einleitung: Freikauf DDR – Freikauf Rumänien

Wenn es um das Thema „Freikauf“ geht, müssen wir zwischen der DDR und Rumänien unterscheiden. Man kann den „Freikauf DDR“ nicht mit dem „Freikauf Rumänien“ gleichsetzen.

Für die Mehrheit der Deutschen in Deutschland ist der Begriff „Freikauf“ ein Synonym für bundesdeutsche Zahlungen an die DDR dafür, dass sie politische Häftlinge aus den Gefängnissen frei ließ und dass die Häftlinge in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen durften.

In Bezug auf die Rumäniendeutschen bedeutet „Freikauf“ etwas anderes. Hier ist mit „Freikauf“ das
Geschäft gemeint, dass die kommunistischen Machthaber Rumäniens mit Ausreisegenehmigungen für
ALLE Angehörigen der deutschen Minderheit machten.

Die Formel lautete: Für jeden Deutschen, den Rumänien ausreisen ließ, musste die Bundesrepublik Deutschland ab 1968 einen in Vereinbarungen festgelegten Betrag an Rumänien zahlen.

Ein weiterer Unterschied zwischen dem „Freikauf DDR“ und dem „Freikauf Rumänien“ sind die „Preise“. Während für jeden freigekauften politischen Häftling aus der DDR mehrere zehntausend D-Mark von Bonn nach Ost-Berlin geflossen sind, waren die vereinbarten „Preise“ für ausgereiste Rumäniendeutsche deutlich geringer. Zuletzt knapp 9000 DM.

Ein weiterer Unterschied ist das Schmiergeldunwesen, das sich in Rumänien vor allem in den 1980er Jahren breit machte. So etwas hat es in der DDR nicht gegeben. „Schmiergeldunwesen“ heißt: Ungeachtet der bilateral vereinbarten Ablösebeträge zahlten Ausreisewillige in Rumänien Bestechungsgelder, die mitunter deutlich höher waren als das „offiziell“ vereinbarte Kopfgeld.

In meinem heutigen Vortrag möchte ich Ihnen zeigen, was Forschungen – nicht nur meine, sondern auch die anderer Kolleginnen und Kollegen – bisher über den Freikauf Rumänien zutage gefördert
haben. Und: Was wir nach wie vor nicht wissen, weil es unter der Decke gehalten wird.

Sieben Vereinbarungen zwischen 1968 und 1989

Im Zeitraum 1968-1989 wurden zwischen Rumänien und Deutschland sieben Vereinbarungen geschlossen, die zwei Kernfestlegungen enthielten:

Erstens: Rumänien lässt in einem bestimmten Zeitraum eine bestimmte Anzahl von Deutschen nach Deutschland ausreisen.

Zweitens: Deutschland zahlt an Rumänien für jeden Ausgereisten einen genau vereinbarten Pro-Kopf-Betrag.

Die Vereinbarungen wurden – auf rumänischen Wunsch – jahrzehntelang geheim gehalten.
Einziger und alleiniger deutscher Verhandlungsführer mit der rumänischen Seite war in der Zeit zwischen 1968 und 1989 der Rechtsanwalt und CDU-Politiker Dr. Heinz Günther Hüsch.

Offiziell waren die rumänischen Verhandlungspartner von Dr. Hüsch Rechtsanwälte, „Ministerialräte“, „Staatsräte“, in Wahrheit aber hohe Offiziere der Securitate. Beide Seiten handelten im Auftrag ihrer Regierungen, durften das nach außen aber nicht kommunizieren.

Ich verzichte darauf, auf Details der sieben Vereinbarungen einzugehen. Sie alle kennen sie aus der Fachliteratur. Wesentlich ist: In den ersten zehn Jahren richteten sich die deutschen Zahlungen nach der Ausbildung der Aussiedler. Die Pro-Kopf-Beiträge lagen zwischen 1700 und 11000 DM. 1978 sind beide Seiten von der Zahlung nach sogenannten „Kategorien“ abgekommen. Ab dann zahlte Deutschland für jeden Aussiedler eine Pauschale, die ständig nach oben kletterte: von anfangs 4000 DM über 7800 DM auf zuletzt fast 9000 DM.

Zwischen 1950 und 1989 sind über 242000 Deutsche aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Davon kamen 226000 in der Zeit zwischen 1968 und 1989. Das sind 93 Prozent aller zwischen 1950 und 1989 Ausgereisten.  Dass die meisten ab 1968 kamen, hängt mit der Mission des deutschen Verhandlungsführers Dr. Heinz Günther Hüsch zusammen. Sein Vorgänger, Rechtsanwalt Dr. Ewald Garlepp, hatte mit der rumänischen Seite immer nur über Einzelfälle verhandelt … und dann gezahlt. Dr. Hüsch verhandelte grundsätzlich für ALLE ausreisewilligen Rumäniendeutschen.

Wie viel Geld ist nach Rumänien geflossen?

Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, lautet: Wie viel Geld ist für die Aussiedler von Deutschland nach Rumänien geflossen? Um es vorwegzunehmen: Wir haben noch keine abschließende Antwort. Der deutsche Verhandlungsführer Dr. Hüsch sagte auf einer Veranstaltung 2014 in Berlin: „Eine Milliarde DM sind zu wenig, drei Milliarden sind zu viel.“

2011 ist in Bukarest ein sehr wichtiges Buch zum Freikauf Rumänien erschienen. Ins Deutsche übersetzt lautet sein Titel: „Die Aktion ‚Rückgewinnung‘ – Die Securitate und die Aussiedlung der Rumäniendeutschen 1962-1989“. Das Buch hat fast 1000 Seiten. Auf den ersten 80 Seiten liefern die Autoren eine Einführung in das Thema. Dann legen sie fast 500 Dokumente aus den Securitate-Archiven zum Freikauf vor.

Aufgrund dieser Dokumente habe ich versucht auszurechnen, wie viel Geld in der Zeit, in der Dr. Hüsch deutscher Verhandlungsführer war, von Bonn nach Bukarest geflossen sein könnte. Nach drei Tagen intensiven Rechnens kam ich auf 1,2 Milliarden DM.

Daraufhin wandte ich mich an Herrn Dr. Hüsch mit der Frage: „Halten Sie diese Summe für richtig?“ Am 15. April 2019 antwortete er mir schriftlich wie folgt: „Ihre Recherchen über die Höhe der Zahlungen gehen in die richtige Richtung. Obwohl ich eine genaue Buchhaltung habe – der Bundesrechnungshof entdeckte eine Differenz von einem Pfennig – möchte ich mich auch jetzt über die Höhe der Zahlungen nicht äußern. Zudem sind außerhalb meiner Buchhaltungen Leistungen in Millionenhöhe geflossen. Zum Teil waren sie als humanitäre Hilfen deklariert, jedoch durch meine mündlichen Abmachungen ausgelöst. Ihre angenommene Zahl – 1,2 Milliarden DM – ist zu gering.“

Was Dr. Hüsch schreibt, bestätigt Stelian Octavian Andronic in seinen Memoiren. Der ehemalige Securitate-Oberst Andronic war von 1981 bis 1986 Dr. Hüschs rumänischer Verhandlungspartner. Darüber hinaus war Andronic von Ende 1979 bis Anfang 1986 Chef einer Abteilung der Securitate, deren Aufgabe es war, Devisen zu beschaffen, ohne dafür Waren zu liefern. In seinem Buch, das 2008 in Bukarest erschien, schreibt Andronic, dass die Securi-tate-Abteilung zur Devisenbeschaffung mit etwa 1,5 Milliarden Dollar zur Tilgung der Auslandsschulden Rumäniens beigetragen habe.

Das Schmiergeldunwesen der 1980er Jahre

Sehr viel mehr Unklarheit als bei den offiziellen deutschen Zahlungen herrscht bei den Bestechungsgeldern, die vor allem in den 1980er Jahren für die Ausreise gezahlt wurden.
Die Schmiergelder flossen ZUSÄTZLICH zu den „offiziellen“ Zahlungen. Die „Preise“ lagen zuletzt, also Ende der 80er Jahre, zwischen 8000 und 1000 DM. 8000 DM für jedermann, 16000 DM für Hochschulabsolventen.

Gezahlt wurde das Bestechungsgeld an Leute, von denen man annahm, sie stünden in Kontakt mit der Securitate oder der Miliz und könnten deswegen Ausreiseanträge positiv beeinflussen.

Im Banat war die Bestechungspraxis viel ausgeprägter als in Siebenbürgen. Aus Siebenbürgen sind meines Wissens nur zwei Namen von Schmiergeldkassierern bekannt, noch dazu sehr seltsame Decknamen: der „Lagerverwalter“ (rumänisch. „magazinerul“) in Agnetheln sowie der „Schwarze Mann“ (rumänisch: „omul negru“) in Hermannstadt.

Der mittlerweile verstorbene rumänische Historiker Mihai Pelin erwähnte diese beiden Namen 2006/2007 in einem Interview für die deutschsprachige Sendung des rumänischen Fernsehens. Pelin nannte aber nur diese Decknamen, keine Klarnamen.

Mehr wissen wir über das Schmiergeldunwesen im Banat. Dieses Wissen verdanken wir der rumänischsprachigen Zeitung „Timişoara Internaţional“. Die Zeitung wurde 1993 in Temeswar gegründet und stellte 2007 ihr Erscheinen ein. Sie kam zweimal im Monat in einer Auflage von 2000 Exemplaren heraus und richtete sich ausschließlich an Leser im Ausland.

Ab Januar 1994 veröffentlichte „Timişoara Internaţional“ in mehreren aufeinander folgenden Ausgaben Listen mit den Namen derjenigen, die bestochen hatten, die aber bis zum Ende des kommunistischen Regimes dennoch keine Ausreisegenehmigung erhielten. Dank dieser Recherchen wissen wir, wer die bekanntesten Schmiergeldkassierer waren, wer ihre Mitarbeiter waren und von wem sie wann wie viel Geld für wie viele Personen kassierten. In Temeswar waren es: der Miliz-Hauptmann Viorel Bucur, „der Gärtner“ (rumänisch: „florarul“ oder „grădinarul“) Nicolae Căpraru sowie „der Jurist“ (rumänisch: „jurisconsult“) Sava Simcelescu. Der vierte wichtige Mann war „der Notar“ George Bogdan. Sein Name taucht nicht in „Timişoara Internaţional“ auf. Er wird aber immer wieder in der Fach- und Erinnerungsliteratur genannt, in Ortschroniken sowie in Interviews, die ich mit Leuten führte, die zugaben, dass sie Schmiergeld zahlten.

Im Einführungsteil ihres Buchs „Acţiunea ‚Recuperarea‘“ schreiben die Autoren: „Das Schmiergeld war nicht Teil der Politik des kommunistischen Regimes. Es ging auch nicht in den Staatshaushalt ein.“
Dem widersprach der rumänische Militärstaatsanwalt Generalmajor Ioan Dan bereits vor 25 Jahren. In
einem Bericht, der in „Timişoara Internaţional“ erschien, sagte er wörtlich: „Das Bestechungsgeld wurde von Vermittlern in Empfang genommen. Sie übergaben es Miliz- oder Securitate-Offizieren. Von dort ging es nach Bukarest zur Einheit von General Stamatoiu. Wir waren in Bukarest, wo das Geld aus den verschiedenen Landesteilen auf das Konto des Innenministeriums eingezahlt wurde. Da ging es um Millionen von DM. General Stamatoiu bestätigte uns gegenüber, dass er das Geld erhalten hat. (…)  Wir haben keine Garantie dafür, dass das ganze Geld nach Bukarest ging. Wir können aber auch nicht beweisen, dass ein Teil einbehalten wurde. General Stamatoiu nannte uns das Konto, auf das er das Geld einzahlte.“

Der mehrfach erwähnte General Stamatoiu war einer von Dr. Hüschs Verhandlungspartnern. Ab 1982 war Aristotel Stamatoiu stellvertretender Chef des rumänischen Auslandsgeheimdienstes, von 1984 bis 1990 dessen Chef.

Dass die Securitate bei dem Bestechungsunwesen ihre Hand im Spiel hatte, bestätigen auch die Recherchen der Hermannstädter Journalistin Hannelore Baier. 2015 veröffentlichte sie nach dem Studium von Securitate-Akten in der „Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien“ eine Artikelreihe, in der es gleich im ersten Beitrag heißt: „Archivunter-lagen beweisen: Schmiergeldzahlungen waren von der Securitate koordiniert“.

Für zwei Dokumentarfilme über den „Freikauf Rumänien“ ist es dem deutsch-rumänischen Regisseur Răzvan Georgescu und seinem Ko-Produzenten Alexandru Solomon gelungen, einen der bekanntesten Schmiergeldkassierer vor die Kamera zu bekommen: den bereits erwähnten ehemaligen Miliz-Hauptmann Viorel Bucur. In diesen Filmen, die 2014 herauskamen, sagt Bucur wörtlich: „Der deutsche Staat zahlte eine bestimmte Summe. Und die Rumänische Kommunistische Partei mit ihren ‚großartigen‘ Führern sorgte dafür, dass diese Summe aufgestockt wurde. Kein Securitate-Mann, kein Miliz-Angehöriger, niemand konnte ohne Rücken-deckung durch die Rumänische Kommunistische Partei handeln.“

Über die Schmiergeldpraxis beschwerte sich der deutsche Verhandlungsführer Dr. Heinz Günther Hüsch gegenüber seinen rumänischen Gesprächspartnern wiederholte Male. Nachlesen kann man das in der bereits erwähnten Quellenedition „Acţiunea ‚Recuperarea‘“, aber auch in dem Buch „Wege in die Freiheit“, das Dr. Hüsch mit den Ko-Autoren Hannelore Baier und Peter-Dietmar Leber 2016 in Deutschland herausbrachte. Namentlich genannt werden in den Beschwerden von Dr. Hüsch eine ganze Reihe von Schmiergeldkassierern, darunter die vorhin schon erwähnten Nicolae Căpraru und George Bogdan aus Temeswar sowie Ioan Boc und Gheorghe Benea aus Arad.

Gebracht haben die Beschwerden nichts. Dr. Hüschs Verhandlungspartner taten so, als seien sie von der Nachricht völlig überrascht und wüssten von nichts.

Wie viel Schmiergeld tatsächlich geflossen ist, weiß niemand, weil für die meisten Beteiligten immer noch gilt: „Nichts sehen – nichts hören – nichts sagen“.

Es gibt Ausnahmen, gewiss, aber nur wenige. Wir brauchen noch viel Geduld, bis wir so viele Puzzleteile zusammen haben, dass sich daraus ein aussagefähiges Bild ergibt. Aufgeben sollten wir die Hoffnung nicht. Denn auch bei den offiziellen Zahlungen hat es Jahrzehnte gedauert, bis wir Informationen hatten, mit denen wir der historischen Wahrheit ein Stück nähergekommen sind.