Der Fall der kommunistischen Regime in den verschiedenen Ostblockstaaten hat nicht nur Erleichterung über das Ende der Repressionen hervorgerufen, sondern auch neue Unsicherheiten hervorgebracht. Unsicherheiten über die Rolle Einzelner im Verhältnis zum Regime, der Täter und der Opfer, die auf einmal nicht immer ganz klar zu unterscheiden waren. Die Freigabe der Geheimdienst-Akten wurde zur Aufklärung dringend gefordert und erfolgte in den einzelnen Ländern unterschiedlich schnell. Das Studium der Akten brachte einiges an Erkenntnissen – Geahntes, aber auch Überraschendes. Und die Beschäftigung mit den Akten wurde auch für die nicht persönlich beteiligten Wissenschaftler zu einer wichtigen, aber nicht unproblematischen Forschungsquelle.
„Aus den Giftschränken des Kommunismus“ hieß eine Tagung des Instituts für Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München, die sich mit methodischen Fragen zum Umgang mit Überwachungsakten auseinandersetzte. Die Beiträge in dem vorliegenden Tagungsband zeigen die vielschichtige Problematik beim Umgang mit der „alternativen Wahrheit“, die eine solche Akte ist. Alternativ in vielerlei Hinsicht, denn die Akte wurde mit einer bestimmten Intention angelegt und muss vom Wissenschaftler auch so gelesen werden, was nicht ganz einfach ist. „Man darf nicht vergessen, dass sie das Werk einer politischen Polizei und eines Regimes ist, das die Wahrheit mit Lügen und die Wirklichkeit mit Illusionen vermischt hat“, schreibt Corina Petrescu in ihrem Beitrag „Beim Lesen einer Akte – Securitate-Unterlagen als Geschichte und Geschichten“. Dieser Beitrag gilt der Securitate-Akte des Schriftstellers Eginald Schlattner, der, zunächst selbst verhaftet, verhört und unter Druck gesetzt, schließlich zum Belastungszeugen im „Schriftstellerprozess“ 1958 wurde. Der Fall Schlattner hat auch durch die Romanveröffentlichung „Rote Handschuhe“ hohe emotionale Wellen geschlagen, doch ungeachtet der verständlichen Emotionalität weist Corina Petrescu genau an diesem Fall auf die Aufgabe der Wissenschaft hin, die Tatbestände in ihren Einzelheiten anhand der kompetenten Studie der Akten zu analysieren.
In diese Kerbe schlägt auch Stefan Sienerth, der zusammen mit Peter Motzan die Akten der rumäniendeutschen Schriftsteller untersucht und dabei auch einige unerwartete Ergebnisse erzielt hat. Auch er stellt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit von Akten als (literatur-)historische Quelle und verweist auf die oft unordentliche Archivierung und möglicherweise auch bewusste Veränderung, Entfernung und Manipulation von Teilen einer Akte, die die Rekonstruktion der Vorgänge oft schwer macht. Sein Beitrag ist dennoch ein positives Fazit über die Erkenntnisse, die sich aus der ausführlichen Forschungstätigkeit beim IKGS zu diesem Thema ergeben hat, auch wenn bei weitem nicht alle anstehenden Fragen geklärt werden konnten. In die gleiche Richtung weist auch der Beitrag von Laura Laza über die Briefe von Wolf von Aichelburg, wo die Securitate bei der Übersetzung manipuliert hat.
William Totok behandelt in seinem Beitrag einen anderen Aspekt der geheimdienstlichen Tätigkeit, der nach der Wende ebenso für erregte Diskussionen gesorgt hat: die gezielte Beeinflussung des Auslands, speziell der bundesdeutschen Öffentlichkeit, durch die Securitate. Beispiel dafür ist der Fall Fritz Cloos, ein aktiver Nationalsozialist und Funktionär der Deutschen Volksgruppe aus Siebenbürgen, der von der Securitate verhaftet und zur Mitarbeit angeworben wurde. Wie sich beim Studium der Akten herausgestellt hat, war er offenbar effizient innerhalb der landsmannschaftlichen Kreise und im Rahmen der von ihm gegründeten „Arbeitsgemeinschaft für südostdeutsche Volks- und Heimatforschung“, die Tagungen und Publikationen hervorbrachte, im Sinne der Securitate aktiv.
Diese Beispiele aus dem rumäniendeutschen Bereich stellen aber nur einen Teil der Tagungsthematik dar. Über die Securitate schreiben noch Dragoş Petrescu, Gabriel Andreescu und Corneliu Pintilescu. Aspekte bezüglich der ungarischen Minderheit behandeln Stefano Bottoni und Agnes Kiss, bezüglich der Jugend Andra-Octava Cioltan-Drăghiciu, während Georg Herbstritt die Zusammenarbeit der Securitate mit der Stasi schildert. Doch auch der Umgang mit den Akten der Staatssicherheit und der kommunistischen Vergangenheit in anderen Ländern war Thema der Tagung und widerspiegelt sich in Länderberichten von Hubertus Knabe (Deutschland), Peter Jašek (Slowakei), Martin Pražák (Tschechische Republik) oder Krisztián Ungváry (Ungarn). Einzelaspekte betreffen Ungarn oder die DDR.
Insgesamt ergibt sich ein beeindruckendes, aber auch beängstigendes Bild von Möglichkeiten der Überwachung und Repression, von Manipulation und Missbrauch, aber auch von willfährigen Mitläufern in den eigenen Reihen. Eine empfehlenswerte Lektüre, bei der man den Eindruck erhält, dass erst die Spitze des Eisbergs bislang sichtbar wurde.