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5000 Volt gegen Flüchtlinge

Gustav Binder, Leiter der Akademie Mitteleuropa in Bad Kissingen, stellte die Gäste auf dem Podium vor (v. links): Dr. Klaus Schneider, Peter Schuster, Johann Steiner, Horst Mayer und Lothar Hafer.

Blick in den Saal.

Noch vor der deutschen Ostzonengrenze war die tschechische mit Zäunen und Minen gesichert / Diskussion über die Flucht aus Osteuropa in der Akademie Mitteleuropa. Fluchtgeschichten können spannend sein. Das hat sich erneut auf einer dreitägigen Tagung in der Begegnungs- und Bildungsstätte „Der Heiligenhof“ in Bad Kissingen bewahrheitet, die als Akademie Mitteleuropa Brücken zwischen West und Ost bauen möchte. Eine Podiumsdiskussion zum Thema „Flucht aus Rumänien und Jugoslawien“ hat rund fünfzig Tagungsteilnehmer in den Bann gezogen. Als Peter Schuster aus dem siebenbürgischen Mediasch von den Prügelorgien spricht, denen er nach einem Ausbruch aus dem Temeswarer Gefängnis ausgesetzt war, muss er immer wieder Pausen einlegen. Beim Erzählen holt ihn das Geschehen vor fast 55 Jahren immer wieder ein, sein Kinn beginnt zu zittern. Ins Gefängnis ist Schuster 1956 nach seinem zweiten Fluchtversuch als Zwanzigjähriger gekommen, der an der rumänisch-serbischen Grenze am Ortsrand von Hatzfeld geendet hat. Ein dritter Fluchtversuch endete für Schuster in den Banater Bergen mit einer erneuten Festnahme und einer zweiten Verurteilung zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe. Seine Fluchtgeschichten sind Teil der Anthologie „Die Gräber schweigen. Berichte von der blutigsten Grenze Europas“, die vor kurzem in einem zweiten Band im Verlag Gilde und Köster erschienen sind. Das Buch war Grundlage für die Gesprächsrunde innerhalb der Bad Kissinger Tagung, die Herausgeber Johann Steiner moderiert hat. Weitere Gesprächsteilehmer auf dem Podium waren Dr. Klaus Schneider aus dem siebenbürgischen Stolzenburg, Horst Mayer aus Deutschbentschek im Banat und Lothar Hafer aus Altsadowa im Banater Bergland. Im Unterschied zu Schuster hatten die drei Glück. Ihre Fluchten waren von Erfolg gekrönt. Alle drei haben Deutschland erreicht; Schneider 1977 zusammen mit zwei Fluchtkameraden in einem beschädigten Schlauchboot, Lothar Hafer 1985 mit zwei Freunden mit Hilfe eines zum Boot umgebauten Traktorschlauches. Mayer hatte 1971 den Weg über die grüne Grenze zusammen mit einem Freund gewählt. Von ihnen sind lediglich Hafer und seine beiden Mitstreiter in serbischen Gewahrsam genommen worden. Die anderen haben Deutschland über Österreich oder den Umweg Italien erreicht.

Anhand der Grenzbefestigung, die sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ständig veränderte, zeigte Markus Meinke von der Universität Regensburg, dass es sowohl an der innerdeutschen als auch an der tschechischen Grenze kaum eine Chance gab, unversehrt in den Westen zu gelangen. Noch bevor die DDR-Grenze unüberwindbar geworden ist, hatte die Tschechoslowakei ihre Westgrenze mit drei parallel verlaufenden Drahtzäunen und einer 5000-Volt-Leitung gesichert, die allerdings nicht dauernd unter Strom stand. Später sollte sich das ändern. Während die CSSR die Minenfelder geräumt hat, ließ das DDR-Regime Minen verlegen. Die tschechische Grenze war fast genauso undurchlässig wie die der DDR. Mit den Botschaftsbesetzungen durch DDR-Bürger im Jahr 1989 befasste sich Dr. Wolfgang Mayer aus Erfurt. Mayer hat seine Dissertation zu diesem Thema geschrieben und darin auch eigene Erfahrungen einfließen lassen. Mit weiteren siebzehn Ilmenauern, darunter sechs Kindern, ist er noch vor den großen Botschaftsbesetzungen in Prag und Budapest in die dänische Botschaft in Ost-Berlin gegangen. Die Dänen begingen den Fehler, Stasi-Mitarbeiter in die Botschaft hereinzulassen, um die Besetzer wegzubringen. Dieser Fehler sollte den Eindringlingen die Freiheit bringen. Nach einem Bericht in einer Berliner Zeitung hat sich die dänische Presse des Falles angenommen, so dass sich Honecker und seine Genossen genötigt sahen, die achtzehn Personen nach und nach ausreisen zu lassen. Dr. Georg Herbstritt, Bundesbeauftragter für die StasiUnterlagen, berichtete über Fluchtversuche von DDR-Bürgern über Rumänien anhand von StasiUnterlagen. Er ging auf drei Fluchten ein, die tödlich endeten.

Mit einer Lesung aus dem Roman „Für einen Fingerhut Freiheit“ des aus Siebenbürgen stammenden Schriftstellers Dietfried Zink ist die Tagung zu Ende gegangen. Zink greift in dem Werk eine Fluchtgeschichte auf.

Das Buch „Die Gräber schweigen. Berichte von der blutigsten Grenze Europas“ kann erworben werden zum Preis von 22 Euro (einschließlich Versandkosten) beim Verlag Gilde & Köster, Am Wassergraben 2, 53842 Troisdorf, Telefon 0175 / 6094431 oder 02246 / 2166, E-Mail: verlaggilde@web.de. Der Roman „Für einen Fingerhut Freiheit“ kann bei erasmus@schiller.ro bestellt werden.