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Grenzen im Kopf sind die Vorboten von Mauern im Alltag

Herzog Carl von Württemberg und der Preisträger Dr. Mathias Beer, Geschäftsführer des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen (von links) Foto: IdGL

Der Historiker Dr. Mathias Beer, Geschäftsführer und stellvertretender Leiter des Tübinger Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, hat den alle zwei Jahre verliehenen Ludwig-Uhland-Preis erhalten. Der seit 1992 von dem Adelshaus Württemberg gestiftete, hoch dotierte Preis wurde dem Preisträger am 26. April, dem Geburtstag des Dichters Ludwig Uhland, von Carl Herzog von Württemberg im Ordenssaal des Schlosses Ludwigsburg überreicht. Rund 150 geladene Gäste aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft wohnten dem musikalisch umrahmten Festakt bei.

Carl Herzog von Württemberg begrüßte die Gäste und unterstrich die Zielsetzung des Preises: Personen zu ehren, die maßgeblich zum Verständnis der Kultur Württembergs und des deutschen Südwestens beitragen. Den Träger des Preises, für den keine Bewerbung möglich ist, wählt eine Jury aus. Diese würdigte mit ihrer Entscheidung Dr. Beers Forschungen zur Migrationsgeschichte der Neuzeit und Zeitgeschichte, insbesondere jene zur Zuwanderungsgeschichte der Vertriebenen und Flüchtlinge aus Südosteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit seiner Forschungs- und Vermittlungsarbeit greife er, so die Würdigung, „eine Thematik auf, die nicht nur für die heutige Gesellschaft Baden-Württembergs maßgeblich ist und zu der er einen zentralen und in seiner Perspektive besonderen Beitrag geleistet hat.“

Die Laudatio auf den Preisträger hielt Manfred Lucha, Minister für Soziales und Integration in der
baden-württembergischen Landesregierung. Lucha begründete die Preisverleihung an den ausgewiesenen Migrationsforscher mit dessen bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen auf dem Forschungsfeld „Migration und Integration“ und dessen persönlichem Engagement in der Flüchtlingshilfe. „Integration beruht auf Zusammenhalt, Zusammenhalt braucht Vorbilder“, so der Laudator. Dr. Beer untersuche die komplexen Probleme von Migration nicht nur in der Gelehrtenstube, sondern bringe sich durch Vorträge, Pressebeiträge und durch das Medium Ausstellung in den öffentlichen Migrationsdiskurs ein, wie die viel beachteten Ausstellungen „Fremde Heimat“ sowie „Ihr und Wir“ zeigten. Er habe in seinen zahlreichen Publikationen gezeigt, dass Einwanderung eine Chance biete, nicht nur für den unmittelbar Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt, die sich damit weiterentwickle. Die Wissenschaft stehe weder unter dem Termindruck der Politik, noch müsse sie dem Zeitgeist nachgehen, da ihre Ergebnisse nicht dem Zweck der Verwertbarkeit unterliegen, so der Minister. Eine wichtige Erkenntnis, die nach Dr. Beers Meinung die Politik aus der historischen Forschung gewinnen könne, ist, dass Integration der Aufnahmebereitschaft der eingesessenen Bevölkerung wie auch politischer Kompromisse bedarf.

Der Preisträger, so Minister Lucha, habe Baden-Württemberg zutreffend als Migrationsland – als Aus- und Einwanderungsland zugleich – beschrieben, was sich in der breiten Öffentlichkeit immer noch nicht durchgesetzt habe. Dr. Beer habe sich eingehend und differenziert mit der Entstehung und Entwicklung der Integrationskonzepte von Flüchtlingen und Vertriebenen im Gefolge des Zweiten Weltkriegs befasst und aufgezeigt, wie diese nach Generationen „heimisch“ geworden sind, somit wie Integration vonstattenging. Dabei sei er bestrebt, persönliche Zeugnisse in den Mittepunkt seiner Forschungen und Ausstellungen zu stellen, um damit Integration für die breite Öffentlichkeit erfahrbar zu machen. Nicht zuletzt spiegle sich in seinem umfangreichen, Monographien, Sammelbände und Aufsätze umfassenden Werk auch die persönliche Migrationsgeschichte von Dr. Beer. Im Land der Vielfalt Baden-Württemberg passe das Wirken des national und international bekannten Forschers in das Jahr 2017: Vor dem Hintergrund des Wandels der „Willkommenskultur“ stehe es für „humanitäre Verpflichtung und gesellschaftlichen Zusammenhalt“.

In seiner Dankesrede ging der aus Neppendorf bei Hermannstadt stammende, mit einer Banater Schwäbin aus Triebswetter verheiratete Preisträger zunächst auf seine persönlichen Begegnungen mit dem Namensgeber des Preises, Ludwig Uhland, ein: die zum Unterrichtsstoff rumäniendeutscher Schulen gehörende Ballade „Des Sängers Fluch“ oder das vielfach gesungene und gespielte Volkslied „Ich hatt‘ einen Kammeraden“, das bei Beerdigungen zum Repertoire jeder siebenbürgischen und Banater Blasmusikkapelle gehörte. In den Mittelpunkt aber stellte Dr. Beer ein Uhland-Zitat aus dem Metzelsuppenlied des Dichters. Es hat, wenn auch nicht auf den ersten Blick, viel mit Migrationsvorgängen zu tun und durchzog die Dankesrede wie ein roter Faden: „Auch unser edles Sauerkraut,/ Wir sollen’s nicht vergessen;/ Ein Deutscher hat’s zuerst gebaut,/ Drum ist’s ein deutsches Essen./ Wenn solch ein Fleischchen, weiß und mild,/ Im Kraute liegt, das ist ein Bild / Wie
Venus in den Rosen.“

Der Aufbau des Vortrags ähnelte dem Zugang Dr. Beers bei seinen Forschungen: Die Geschichte der kleinen Leute und die große, über deren Köpfe hinweg verlaufende Geschichte sind bei ihm immer eng miteinander verknüpft. Dies veranschaulichte er an eigenen existentiellen wie auch an gesellschaftlichen Erfahrungen der deutschen Minderheit in Rumänien in den beiden Weltkriegen und in der Zeit des Kommunismus. Er ging zunächst auf sprachliche und kulturelle Vielfalt im Herkunftsgebiet ein. Im Alter von fünf Jahren soll er nach der ersten Woche des Kindergartenbesuchs seinen Eltern stolz berichtet haben: „Jetzt spreche ich schon vier Sprachen!“ – den landlerischen Dialekt seiner im 18. Jahrhundert nach Siebenbürgen deportierten Vorfahren, das Siebenbürgisch-Sächsische der Hermannstädter Stadtbevölkerung, das im Kindergarten erlernte Hochdeutsch und die rumänische Landessprache. „Diese Vielfalt, in der ich sozialisiert wurde und die mir den Blick für das Andere öffnete“, so Beer, „schlug sich in allen Bereichen des Alltags nieder, wenn sie auch kaum thematisiert und schon gar nicht als bereichernd empfunden wurde.“

Zu dieser Vielfalt, so der Preisträger, der unter anderem auch einen Aufsatzband über „Essen und Migration“ herausgegeben hat, gehöre auch das Sauerkraut. Am Sauerkraut, beginnend mit der sächsischen Küche über das allen Siebenbürgern bekannte geschichtete Klausenburger Kraut (ung. Kolozsvári rakott káposzta, rum. varză à la Cluj) und bis zu den regional unterschiedlichen Arten von Krautwickeln (rum. sarmale) und den türkischen Kohlrouladen, machte er interethnische Kontakterscheinungen und kulturelle Austauschprozesse fest. Vor diesem Hintergrund wirft für Dr. Beer Uhlands Metzelsuppenlied grundlegende Fragen auf: War die Kohlroulade, wenn auch noch so sehr sprachlich veredelt, allein ein deutsches Essen? Hatte wirklich ein Deutscher Kraut zuerst gebaut? War nur für ihn der Kern der Kohlroulade die Venus in den Rosen? Der Preisträger machte deutlich, dass das Sauerkraut gerade mit Blick auf Südosteuropa ein Gericht mit unterschiedlichen nationalen und regionalen Ausprägungen ist. Ob als Rund- oder Spitzkraut, taugt auch der Kohl weder zu einer ethnozentrischen Vereinnahmung noch gar zu einer exklusiven kollektiven Identitätszuschreibung.

Das machte Dr. Beer schließlich an der Migrationsgeschichte des deutschen Südwestens deutlich. Baden-Württemberg sei nicht nur das Land der Badener und Württemberger. Das, was sie zusammenhalte, seien die Millionen von Zuwanderern, so die Leitthese Dr. Beers aus seinen Forschungen über die frühe Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen und deren politisches Verhalten bei der Entstehung des Bundeslandes. Aus dem klassischen Auswanderungsland Württemberg – nach Osteuropa und nach Übersee – sei nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zuwanderungsland geworden. Die „Neingeschmeckte“ hätten das Land geprägt. Als er nach Deutschland kam, so Dr. Beer, habe es den Begriff „Mensch mit Migrationshintergrund“ noch nicht gegeben. Die Bereitschaft zur Akzeptanz des „Andersseins“ von beiden Seiten, Eingesessenen und Zuwanderern, sei der Schlüssel zur Integration, die nicht kurzfristig erreichbar, sondern in der langen, generationenübergreifenden Dauer angelegt sei.

Abschließend dankte Dr. Beer für die hohe Auszeichnung, die er gerade unter den gegenwärtigen internationalen und nationalen Gegebenheiten, der grassierenden Xenophobie und des überbordenden Nationalismus, als Verpflichtung ansieht, mit seinen Forschungen auf den entscheidenden Stellenwert von Migrationen für die Entwicklung von friedlichen und prosperierenden
Gemeinwesen hinzuweisen, die sich durch Vielfalt und Toleranz auszeichnen. Allein schon die Erkenntnis, dass niemand einen Alleinvertretungsanspruch auf das Sauerkraut und die Kohlroulade habe, also der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus, könne, so der Preisträger, dabei hilfreich sein. Denn Grenzen im Kopf sind immer die Vorboten von Mauern im Alltag.