zur Druckansicht

Mit Anna Romana unterwegs

Helene Feiler mit Bettnachbarin Rosalia kurz nach ihrer Typhus-Erkrankung 1948; im Hintergrund das Lagerbad

Sanitäter, Dolmetscher und Küchenpersonal aus dem Lager 1220 Wolodarka 1946. Fast alle hatten vorher in oder bei der Kohlengrube als Vorlader gearbeitet, sich aber schnell erholt. Fotos: privat

Helene Feiler, verh. Neumayer, 1947 als Krankenschwester im Lager Wolodarka im Kohlengebiet des Donezbeckens

Helene Neumayer lebt heute 93-jährig in Freiburg im Breisgau. Zur Welt kam sie am 12. Januar 1924 in Billed als Tochter des Arztes Dr. Hans Feiler und der Helene, geb. Sladek. Das Gymnasium und die Lehrerinnenbildungsanstalt besuchte sie in der Temeswarer Notre-Dame-Klosterschule, das letzte Ausbildungsjahr (1942/43) in Schäßburg. Von Tschanad aus, ihrer ersten Stelle als Lehrerin, wurde sie im Januar 1945 nach Russland deportiert. Sie kam ins Gebiet des Kohleabbaus im Donezbecken, in der heutigen Ukraine. Über die dort verbrachten fünf harten Jahre berichtet sie im folgenden Text, dessen Erstveröffentlichung im „Billeder Heimatblatt“, Ausgabe 24/2011, S. 85-88 erfolgte.

1952 heirateten Helene Feiler und Karl Neumayer in Lugosch. Sie war dort seit 1950 als Russischlehrerin tätig, er hatte vier Kriegsjahre und sechs Jahre Gefangenschaft hinter sich. Das Ehepaar mit zwei Kindern blickte auf dreißig Jahre Temeswar zurück, als die Familie 1972 aussiedelte. Mit einigen gesundheitlich bedingten Unterbrechungen (Lungenschädigung während der Russlandzeit) war Helene Neumayer in Temeswar als Lehrerin berufstätig – zuerst als Russischlehrerin an mehreren Schulen, dann ununterbrochen an der Grundschule der Allgemeinschule Nr. 3 in der Fabrikstadt. In Freiburg unterrichtete sie noch einige Jahre. 1985 ging sie in Rente. Helene Neumayer engagierte sich in ihrer Wahlheimat auch sozial und kulturell in der Caritas, im Kreisverband der Banater Landsmannschaft, in der Kirchengemeinde und im Seniorenkreis. (Auszug aus den Aufzeichnungen von Radegunde Täuber im „Temeschburger Heimatblatt“, Ausgabe 23/2012, S. 24-25)

Die Tage, Wochen, Monate und Jahre, die wir durch die Deportation in Russland verbringen mussten, waren für uns gewiss schlimme Zeiten. Was am meisten an uns nagte, war die große Unsicherheit: Wie lange müssen wir dort schmachten? Können wir überhaupt hoffen, jemals wieder heim zu kommen?
Der harte Winter 1947 mit den vielen Toten raubte uns den letzten Schimmer Hoffnung. Als dann die ersten Transporte mit Kranken zusammengestellt wurden und diese tatsächlich heimfuhren, atmeten wir ein klein wenig auf. Also doch!

Im Grunde genommen verhielten sich die russischen Aufseher und das ganze Personal – mit einigen Ausnahmen – uns gegenüber nicht schlecht. Ihr oftmaliges „Skoro damoi“ (Bald gehtʼs nach Hause) klang manchmal sogar mitleidsvoll. Ein russischer Gruben-Mitarbeiter sagte einmal ganz wehmütig: „Ihr werdet irgendwann doch einmal nach Hause kommen, aber wir sind verdammt, für immer hier zu bleiben.“

In großen Abständen rollten die Krankentransporte, aber immer nur mit wenigen Kranken. Der Lagerarzt – bei uns Anna Romana – und der Lagerkommandant erstellten dazu die Listen. Unser Lager wurde dann aufgestockt mit Neuankömmlingen, so dass wir immer noch 1000 Mann zählten.
Der tägliche Umgang mit Anna Romana erbrachte mir nach und nach das Erlernen der russischen Sprache. Die langen Listen mit deutschen Namen in russische Schreibweise umzusetzen, ermöglichte es mir bald, mir das Russische auch in Wort und Schrift anzueignen. Anna Romana brachte mir dann auch Bücher zum Lesen – zumeist von Tolstoi und Dostojewski –, die ich teilweise schon in meiner Schulzeit in Deutsch gelesen hatte. Sie gehörten ja zur Weltliteratur. So entwickelte sich schier ein freundschaftliches Verhältnis zu Anna Romana, manchmal nannte sie mich auch Lenotschka (Helenchen). Sie war zwar keine Ärztin, vermutlich Krankenschwester, doch für unseren Bereich gut genug ausgebildet. Von ihr erlernte ich die Behandlung von Panaritium (Nagelgeschwür), was am häufigsten vorkam, denn unsere Grubenarbeiter arbeiteten ohne Handschuhe. Ebenso die Behandlung von Furunkeln, eitrigen Geschwüren, die aufgeschnitten werden mussten, und vieles mehr. Sie gebrauchte auch ein Stethoskop, denn Erkältungskrankheiten gab es immer wieder; damit konnte sie auch die Lungenentzündungen diagnostizieren, woran fast alle, die daran erkrankt waren, gestorben sind, oft auch 18- und 19-Jährige.

Kamen die Kranken zur Visite, konnte ich in manchen Fällen Anna Romana beeinflussen, noch ein paar Tage Krankenurlaub anzuhängen. Manchmal gelang es mir sogar, den Arbeitsplatz der Kranken gegen
einen leichteren einzutauschen.

Wenn es im Sanitätsbetrieb mal keine Arbeit mehr gab, die Ambulanz jedoch geöffnet bleiben musste, spielten wir zusammen Schach und Mühle, oft gesellte sich auch der diensthabende Offizier Vasile Iwanowitsch dazu, ein ausgezeichneter Schachspieler. Falls sich aber der Lagerkommandant dem Krankenrevier näherte, purzelten – schwuppdiwupp – unsere Figuren blitzschnell in die Schublade. Mit den „Feinden“, also mit uns, sollte kein geselliges Spiel gemacht werden.

Einmal begleitete ich Anna Romana auf dem Weg ins Hauptlager 1220, ca. acht Kilometer entfernt, um Medikamente abzuholen. Es war ein warmer, sonniger Tag und wir machten uns frühmorgens auf den Weg. Dabei kamen wir oft ins Gespräch und Anna Romana erzählte mir viel von ihrem siebenjährigen Sohn Vitja. Sie musste viel arbeiten, denn ihr Mann saß im Knast. Er war zu sechs Jahren verurteilt worden. Ich fragte nicht nach dem Grund, denn im kommunistischen Russland war so etwas allzuoft der Fall.

Durch unseren zügigen Marsch plagte mich plötzlich eine Wasserblase am rechten Fuß. Ich konnte kaum noch Schritt halten und wir hatten noch etwa vier Kilometer vor uns. Anna Romana sah mich mitleidsvoll an, aber was nun? Doch sie hatte gleich einen guten Einfall: Mit einer Haarnadel aus ihrer Frisur stach sie die Wasserblase auf. Nun musste ich nur noch den Schuh hinten runtertreten und schon ging es humpelnd weiter. Im Lager machte sie mir dann gleich einen ordentlichen Verband. Abends ging es auf dem Rückweg zügig heimwärts, obwohl wir zwei Säcke zu schleppen hatten mit dem Impfstoff für 1000 Mann und allerlei Medikamenten, Verbandszeug usw.

Am nächsten Morgen wurde der Impfstoff verabreicht, laut Packung gegen eine Mäusekrankheit. Anna Romana lehrte mich, wie man es macht: Ein Stich in den Oberarm, abtupfen und fertig. Damit übergab sie mir die Arbeit. Und ich impfte und impfte, bis alle Lagerinsassen an der Reihe waren. Man höre und staune: Alle 1000 Mann wurden mit einer einzigen Nadel geimpft und keiner von ihnen erkrankte. Hier mussten wohl die Götter am Werk gewesen sein, da nichts geschah.

Im Dezember des gleichen Jahres mussten wir wieder Medikamente herbeischaffen, diesmal per Zug aus der Kreisstadt Woroschilowgrad. Der Schnee knirschte unter unseren Füßen, denn der Winter war früh eingebrochen. Bis zu unserer Bahnstation hatten wir etwa 10-11 Kilometer zu bewältigen.
Anna Romana war an lange Fußmärsche gewöhnt und klagte nicht. Der Zug jedoch war für mich eine Neuheit: Die Abteile waren etwas größer als bei uns und über jeder Bank war ein Netz zum Schlafen gespannt. Wir sicherten uns eine Schlafstelle, denn auch unser Weg war lang. Hier lag ich dann in meine Fufaika (dicke Wattejacke) gehüllt, aber schlafen konnte ich nicht. Das Geräusch der Räder ging mir durch Mark und Bein, außerdem war die Luft im Waggon zum Schneiden: Zigarettenrauch, Knoblauchgeruch, Körperausdünstungen usw.

In den Vormittagsstunden erreichten wir Woroschilowgrad und unser Arbeitstag begann: Wir liefen von Depot zu Depot, bis wir alle unsere Medikamente beisammen hatten. Unsere Säcke waren schwer, wir schleppten und schleppten. Es war Winter und die Dunkelheit brach früh an. Endlich kamen wir bei
einem schlichten, ländlichen Häuschen am Stadtrand an, wo wir einkehrten und von einer kräftigen Frau, Olga Feodorowna, einer Schulfreundin von Anna Romana, freundlich empfangen wurden. Wir stellten das Gepäck ab, wärmten uns an einem Lehmofen gut auf, tranken Olgas heißen Tee. Später rief sie uns zum Essen: Piroschki (Pfannkuchen) und eine Tasse Milch. So ergab sich ein gemütlicher Abend. Es war mein drittes Jahr in Russland, sodass ich in den Gesprächen recht gut mithalten konnte. Olga Feodorowna hat sich auch sehr danach interessiert, wie es bei uns daheim war, wovon wir lebten usw. Bald war Zeit zum Schlafengehen und ich hielt schon Ausschau danach, wo ich in der
Nähe des Ofens mit meiner Fufaika mein Lager zurechtmachen könnte. Anna Romana lag schon im Bett, sprang aber plötzlich auf und bot mir einen Platz neben sich im Bett an. Ich hielt es nicht für möglich: Seit langer Zeit lag ich wieder auf einer Matratze!

Doch diese Geste von Anna Romana stimmte mich nachdenklich, trotz Müdigkeit konnte ich nicht einschlafen: zwei „Feinde“ nebeneinander im Bett! Im Grunde genommen waren wir keine Feinde. Wir hatten die gleichen christlichen Namen und vom Elternhaus her die gleiche christliche Erziehung.

In den Morgenstunden traten wir wieder unsere beschwerliche Zugreise an und erreichten erst in den späten Abendstunden unseren Bahnhof. Es schneite in großen Flocken und Anna Romana fragte mich, ob ich die zehn Kilometer bis zum Lager noch schaffe. Ich war jedoch zu müde und geschwächt, um durch den hohen Schnee zu stapfen. Sie telefonierte dann vom Bahnhof aus mit dem Lager und nach einer Stunde kam der Lagerkutscher mit dem Schlitten und holte uns ab.

So habe ich wieder einmal das Menschliche in der russischen Seele erkannt und erfahren. Ganze Völker wurden zur Feindschaft manipuliert, durch unsere Diplomaten wie auch durch die der anderen Seite. Hass wurde geschürt. Das Ergebnis war ein in einen glühenden Trümmerhaufen verwandeltes Europa, verbunden mit unsäglichem Leid. Grauenhafte Erinnerungen blieben uns, den Überlebenden, erhalten, sie begleiten uns bis ins hohe Alter. Möge es eine Mahnung sein für alle Nachkommen hüben und drüben!