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„Fahnenflucht in die Freiheit“

1974: Meistermacher Hansi Schmidt (VfL Gummersbach) hält zum vierten Mal den Europa-Pokal in Händen. Foto: Archiv BP

Handball-Legende Hansi Schmidt (links) im Gespräch mit Moderator Dr. Helge Heidemeyer, Abteilungsleiter in der Berliner Stasi-Unterlagen-Behörde. Foto: Richard Fasching

„Wer integriert werden möchte, muss selbst dazu beitragen“ / Der Banater Weltklassehandballer Hansi Schmidt zu Gast in Berlin. 1976 hat sich Hans-Günther Schmidt aus dem Leistungssport zurückgezogen. Aber auch heute noch, vierzig Jahre danach, ist der Name Hansi Schmidt ein Publikumsmagnet. Das zeigte sich am 16. Februar, als der einstige Weltklassehandballer des VfL Gummersbach zu Gast in Berlin war. Im Veranstaltungssaal der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde waren alle Plätze besetzt. Im Mittelpunkt stand allerdings nicht so sehr der Handball, sondern vielmehr Hansi Schmidts „Fahnenflucht in die Freiheit“, so der Titel der Veranstaltung. Mit seiner Flucht in den Westen legte  Schmidt zum einen den Grundstein für seinen Aufstieg zu einem der besten Handballer aller Zeiten. Zum anderen schuf er sich und seinen im Banat verbliebenen Angehörigen durch die Flucht aber auch große Probleme, die erst durch das Eingreifen der Bundesregierung gelöst werden konnten. Darüber berichtete Hansi Schmidt in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Marienfelde war in der Zeit der Teilung Berlins und Deutschlands erste Anlaufstelle für Übersiedler und Flüchtlinge aus Ost-Berlin und der DDR, aber auch für Aussiedler aus den anderen Ostblockstaaten. Nach der deutschen Einheit wurde das einstige Notaufnahmelager zur Erinnerungsstätte.

Hansi Schmidt wurde 1942 in Marienfeld im Banat geboren. Sein großes Handballtalent fiel schon in seiner Schulzeit auf. Über die Studentenvereine Ştiinţa Temeswar und Ştiinţa Bukarest gelangte er zu dem erfolgreichen Bukarester Armeesportklub „Steaua“. 1963 nutzte er ein Turnier einer Studentenauswahl Rumäniens, um in Deutschland zu bleiben. Obwohl er damals erst 21 Jahre alt war, hatte er bereits 18 Länderspiele für die rumänische Nationalmannschaft bestritten. Auf dem Umweg über Hamburg gelangte er zum VfL Gummersbach, der damals noch ein unbedeutender Provinzverein war, dank Hansi Schmidt aber in die Weltelite des Handballs aufstieg.

Wie Schmidt berichtete, hatte er als Spieler von Steaua Bukarest viele Privilegien. Als Sportsoldat mit dem Dienstgrad eines Leutnants verdiente er zum Beispiel nur ein Drittel weniger als sein Vater, der Arzt im Banat war. Obwohl offiziell Armeeangehöriger, durfte Schmidt weiterhin auch Student der Bukarester Sporthochschule bleiben. Ein solches Konstrukt habe es bis dahin im kommunistischen Rumänien nicht gegeben. Die „Lex Hansi Schmidt“, also gleichzeitig ordentlicher Student und ordentlicher Sportsoldat, habe der damalige stellvertretende rumänische Kriegsminister Mihai Burcă geschaffen. Der damalige Präsident von Steaua Bukarest, Oberst Aurelian Budeanu, behandelte Hansi Schmidt fast wie seinen eigenen Sohn. Eines Tages sagte er ihm: „Wenn du heiraten möchtest, lass es mich drei Wochen vorher wissen. Ich kümmere mich dann darum, dass ihr eine Wohnung bekommt.“ In Bukarest eine Wohnung zu bekommen, sei damals, zu Beginn der 1960-er Jahre, außerordentlich schwierig gewesen. Ein anderes Mal war Oberst Budeanu Hansi Schmidt für dessen Geistesblitz dankbar. Der Oberst sollte Schmidt überreden, in die Partei einzutreten. Was dieser geschickt abwehrte mit der Bemerkung: „Ich bin freiwillig in die Armee eingetreten. Für die Partei fühle ich mich noch nicht reif.“

Noch heute ist Schmidt davon überzeugt, dass die rumänischen Trainingsmethoden wegweisend für ganz Europa waren. Johnny Kunst-Ghermănescu, der damalige Trainer von Steaua Bukarest und der rumänischen Nationalmannschaft, habe von überall nur das Beste übernommen: von den Skandinaviern die Härte, von den Deutschen die Einsatz-bereitschaft und von den Tschechen und Slowaken die Filigranarbeit. Dazu gekommen sei der Spielwitz der Südeuropäer. Unter Johnny Kunst-Ghermănescu wurde bei Steaua täglich trainiert. Ging es ins Trainingslager, beispielsweise vor einer Weltmeisterschaft, war sogar drei bis vier Mal am Tag Training angesagt.

Zu Beginn der 1960-er Jahre spielte Hansi Schmidt mit dem Gedanken, an die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig zu wechseln. Auf die Idee brachte ihn ein Handball-Länderspiel zwischen Rumänien und der DDR, das er in der Bukarester „Floreasca“-Halle als Zuschauer sah und in dem ihn ein DDR-Spieler besonders überzeugte. Dieser Spieler gehörte der Mannschaft der DHfK an. Schmidt verwarf den Gedanken an Leipzig aber wieder, weil er fürchtete, dass damit seine Handball-Karriere zu Ende wäre, ehe sie überhaupt richtig begonnen hätte. „Die Rumänen würden mir einen Weggang nach Deutschland, auch wenn es ‚nur‘ die DDR gewesen wäre, nicht verzeihen.“

Was ihn Ende November 1963 letztlich bewog, in Deutschland zu bleiben, das waren die fehlende Freiheit in Rumänien und das einschneidende Erlebnis „Bărăgan-Deportation“. Hansi Schmidt, seine Schwester und seine Eltern wurden zwar nicht deportiert, weil sein Vater in der rumänischen Armee gedient hatte. Wohl aber mussten fast alle Mitglieder seiner Großfamilie in den Bărăgan, darunter auch seine Oma Katharina, die er innig liebte. Bereits im ersten Winter ist der einzige Urgroßvater, den er noch hatte, im Bărăgan erfroren.

In Gummersbach, einer 50000-Einwohner-Stadt 50 Kilometer östlich von Köln, entwickelte sich Hansi Schmidt rasch zum Führungsspieler. Mit ihm wurde der VfL wiederholte Male deutscher Meister und Europapokalsieger. Hansi Schmidt war über Jahre hinweg Torschützenkönig in der Handball-Bundesliga und „Torschütze vom Dienst“ in der deutschen Nationalmannschaft. Er war aber auch immer ein Unbequemer, der sich nicht scheute, zu seiner Meinung zu stehen. Das zeigte sich 1972 sehr deutlich, als er freiwillig auf eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in München verzichtete. Bereits im Vorfeld hatte er dem Bundestrainer höflich und freundlich gesagt, dass er nicht zu den Olympischen Spielen fahren werde, sollte er merken, dass die Auswahl der Spieler nicht nach dem Leistungsprinzip erfolgt. Der Bundestrainer scheint das nicht ernst genommen zu haben. Hansi Schmidt schon. Konsequent wie er ist, ging er tatsächlich nicht mit zu den Olympischen Spielen, wohl wissend, wie weh es ihm tun würde, ausgerechnet dann nicht dabei zu sein, wenn Deutschland Gastgeber ist. Obendrein hatte sein Schritt zur Folge, dass er nicht Bundestrainer wurde. Eigentlich war geplant, dass er nach den Münchner Olympischen Spielen für diese Aufgabe aufgebaut wird.

Genau so konsequent war er in seinem Beruf als Lehrer. Bereits 1969, also lange vor dem Ende seiner Karriere als Leistungssportler, trat er in den Schuldienst ein. Als ihm der Posten des Schulleiters angeboten wurde, lehnte er ab mit der Begründung, es gebe Kollegen, die dafür besser geeignet seien.

Nach Hansi Schmidts Flucht in den Westen hatten es seine im Banat zurückgebliebenen Eltern schwer. Sein Vater verlor seinen Posten als Arzt. Fortan lebte die Familie von dem, was der Hausgarten hergab. Eine Ausreise nach Deutschland wurde ihnen genauso verweigert wie der Familie von Hansi Schmidts Schwester. Die rumänischen Behörden stellten sich auf den Standpunkt: „Wer flüchtet, kann sich hinterher nicht auf die Familienzusammenführung berufen, schon gar nicht, wenn er Fahnenflucht begangen hat.“ Erst nachdem sich die Bundesregierung in den „Fall Schmidt“ einschaltete, ging es voran. Treibende Kräfte waren der damalige Bundesinnen- und spätere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und dessen damaliger engster Mitarbeiter Klaus Kinkel. Sie beauftragten den  bundesdeutschen Verhandlungsführer Dr. Heinz-Günther Hüsch, eine Lösung herbeizuführen. Wie sich Dr. Hüsch erinnert, hat er mit seinen rumänischen Gesprächspartnern 21 Mal über den „Fall Schmidt“ verhandelt. Die Kompromisslösung, die gefunden wurde, lautete: Schmidt wird amnestiert. Seine Eltern und seine Schwester mögen Ausreiseanträge stellen. Diese würden genehmigt. So ist es auch gekommen. 1975 durften sie nach Deutschland ausreisen. Für seine Fahnenflucht war Hansi Schmidt in Abwesenheit von einem rumänischen Militärgericht verurteilt worden. Ob zum Tode oder „nur“ zu einer langjährigen Gefängnisstrafe, das weiß er bis heute nicht. Das Urteil wurde ihm nie zugestellt. Die Ausreisegenehmigung für Hansi Schmidts Familie ließ sich die rumänische Seite von der deutschen fürstlich honorieren.

Wie Hansi Schmidt berichtete, hätte er nach seiner Flucht auch zu Verwandten nach Süddeutschland gehen können. Sie wohnten in Uhingen unweit Göppingens. In diesem Fall wäre Frisch Auf Göppingen für ihn eine Option gewesen. Dieser Verein gehörte damals zu den Etablierten in Deutschland, war mehrfacher deutscher Meister und Europapokalsieger. Schmidt zog es aber vor, für den VfL Gummersbach zu spielen. Zum einen, weil ihm dies die Möglichkeit bot, an der nahe gelegenen Sporthochschule Köln zu studieren;  zum anderen, weil für ihn ein chinesisches Sprichwort schon immer eine Art Leitschnur war: „Wenn du eine helfende Hand suchst, suche sie zuerst am Ende deines Unterarms.“ Der Erfolg gab ihm Recht.

In Gummersbach fühlt sich Hansi Schmidt längst zu Hause. Seine Frau Karin und deren Familie haben wesentlich dazu beigetragen, ebenso die Familie des langjährigen VfL-Managers Eugen Haas. Auch die Gummersbacher betrachten Hansi Schmidt inzwischen als einen der ihren. Das war aber nicht immer so. Wie Schmidt berichtete, fühlte er sich lange Zeit in Deutschland fremd. Das habe aber nicht nur „an den anderen“, sondern vor allem an ihm selbst gelegen. Bis ihm schließlich klar geworden sei: „Wer integriert werden möchte, muss selbst dazu beitragen. Integration ist zu 80 oder 90 Prozent Sache des Einzelnen und nicht des Staates, in den ich mich nach dem Verlust meiner Heimat begebe. Ich kann von den Menschen, in deren Land ich gehe, nicht erwarten, dass sie meine Geschichte kennen. Vielmehr muss ich mich mit ihren Sitten und Gebräuchen und Traditionen vertraut machen, wenn ich hier Fuß fassen will. Ich kann nicht erwarten, dass sie sich mir anpassen.“

Stolz ist Hansi Schmidt auf all jene Banater Schwaben, denen die Integration in die deutsche Gesellschaft gut gelungen ist, die in Deutschland etwas geleistet haben und damit zum Wohlstand ihrer neuen Heimat beigetragen haben. In Ehren hält er das einzige Bild des Banater Malers Stefan Jäger, das ihm verblieben ist. Alle anderen Jäger-Bilder wurden seinen Eltern bei der Ausreise an der Grenze weggenommen, ebenso die Bilder des anderen bedeutenden Banater Malers Franz Ferch. Seinen Heimatbezug bringt Schmidt auf die Formel „Nicht in der Vergangenheit leben, sondern mit ihr.“
Wie bekannt Hansi Schmidt auch heute noch ist, zeigte sich am Schluss der Veranstaltung. Eine gute Stunde lang war er von Teilnehmern umringt, die ihm Fragen stellten, die er geduldig beantwortete.